Auszüge aus dem Buch Mensch sein - Von der Evolution für die Zukunft lernen
Carel van Schaik und Kai Michel, Hamburg 2023
Wir sind nicht schuld
Mit dem Leben stimmt etwas nicht. Die meisten kennen das Gefühl. Die Welt scheint nicht so, wie sie sein sollte. Nicht selten regt sich die Sehnsucht, dass da doch mehr im Leben sein müsste als das, was der Alltag zu bieten hat. In der Regel schieben wir solche Empfindungen beiseite und kehren zu dem zurück, was wir für die Normalität halten. Ein Fehler.
Wir müssen unseren Gefühlen vertrauen. Philosophen klagen seit jeher über die «Absurdität des Lebens» (Camus) und die «Entfremdung des Menschen» (Marx), diagnostizieren ein «Unbehagen in der Kultur» (Freud) und fragen, ob nicht vielleicht ein «ursprünglicher Fluch» auf dem Heute laste (de Beauvoir). Im Kern meinen sie alle dasselbe: Die Menschen und ihr Leben passen nicht zueinander. Doch eine allgemein akzeptierte Erklärung, woraus das existenzielle Ungenügen resultiert, fehlt bisher.
Das ist fatal. Es ist ja nicht nur, dass uns das eigene Leben fremd erscheint und sich immer mehr Menschen zu Depressionen und Angststörungen bekennen. Nein, die Welt selbst ist aus den Fugen. Aktuell stellt sie das besonders dramatisch unter Beweis: Kriege, Klima, Flüchtlinge, Pandemien – es herrscht Krise in Permanenz. Doch während die Erde dem Kollaps entgegentaumelt, flüchten wir in unsere kleine Alltagswelt. Ratlos sehen wir zu, wie die Reichen immer reicher werden und die Ungerechtigkeit in schwindelerregende Höhen schießt. Sicher werden einzelne Aspekte der Misere diskutiert. Der grassierende Konsumwahn, die Schieflage der sozialen Verhältnisse und Geschlechterrollen, die katastrophalen Folgen für die Umwelt, die Klimakrise. Das große Ganze indes kommt kaum in den Blick. Die Grundsatzfrage, ob am Anbeginn des 21. Jahrhunderts etwas grundverkehrt mit dem Menschsein sein könnte, steht nicht zur Debatte. Mit verhängnisvollen Folgen.
Wenn es nicht am Leben selbst liegt, muss der Fehler ja bei uns zu finden sein. Was angesichts der existenziellen Zumutungen als berechtigter Weltschmerz durchgehen könnte, wird zunehmend als Hypersensibilität oder Depression diagnostiziert und zu behandlungswürdigen Krankheiten erklärt. Die Frage, ob es sich nicht schlicht um normale Reaktionen auf merk-, wenn nicht sogar unwürdige Lebensbedingungen handeln könnte, wird selten gestellt, geschweige denn beantwortet. «Lebensekel» ist ein Wort, das sich nur noch im Lexikon verschwundener Wörter findet. Vergessen auch die Gräfin Orsina, die noch in Lessings Emilia Galotti seufzen konnte: «Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.»
Stattdessen feiert ein altes Phantasma sein Comeback, das uns zu Sündenböcken macht. Jahrhundertelang hatte die Kirche gepredigt, die existenzielle Unzufriedenheit wie alles andere irdische Übel auch wurzelten in der sündhaften Natur der Menschen. Heute sitzen wir wieder als Schuldige auf der Armesünderbank. Quält uns der Verdacht, die Welt sei nicht bei Sinnen, verlangt eine ganze Industrie, wir müssten uns optimieren – und alles werde gut. Therapien, Coachings und Selbsthilfeseminare boomen, Ratgeber dominieren die Bestsellerlisten. Gehorchten wir nur brav ihren Anweisungen, lösten sich alle Probleme wie von selbst. Das ist das Heilsversprechen des 21. Jahrhunderts.
Die Vorwürfe sind vielfältig: Wir seien undiszipliniert, fehlerhaft, schwach oder einfach zu empfindlich, um glückliche Menschen zu werden. Entsprechend trichtert man uns ein, wacher und achtsamer zu werden, Resilienz zu trainieren oder auf das Kind in uns zu hören. Wir sollen uns selbst ermächtigen und endlich herausfinden, was der Sinn des Lebens, das Zentrum unseres Seins, unser Zweck der Existenz oder der uns gemäße Platz im Kosmos sei. Dann erkennen wir das Licht in uns. Längst ist «Mental Health» zum Multimilliarden-Markt geworden, dessen gebetsmühlenartig vorgetragenes Mantra lautet: «Gib alles, um die beste Version deiner Selbst zu werden.»
Wir sind Lost in Perfection, um den Titel eines aktuellen soziologischen Sammelbands zu zitieren. «Wer in der zeitgenössischen, von Beschleunigung und Wettbewerb geprägten Welt nicht abgehängt werden will, hat kaum eine andere Wahl, als Leistung und Produktivität unaufhörlich zu steigern», heißt es in der Einleitung. «Sich um Selbstverbesserung und Effizienzsteigerung zu bemühen, erscheint den meisten als selbstverständlich. Optimierungsimperative in sämtlichen Lebensbereichen sind habituell und normativ mehr oder weniger verinnerlicht.» Die Optimierung kennt jedoch kein Ziel, sondern immer nur ein Mehr. Während der Mythos des ewigen Wachstums dank technischen Fortschritts kultische Züge annimmt, taumelt die Welt dem Abgrund entgegen. Was läuft da schief? Vor allem: Warum fallen wir darauf herein? —
Die Zeit drängt, wir wollen gar nicht viele Worte verlieren. Die These dieses Buchs lautet: Es liegt nicht an uns. Wir sind nicht schuld! Camus und Co. hatten recht. Mit dem Menschsein stimmt etwas nicht – und zwar grundsätzlich. Doch sie kamen zu früh, ihnen fehlte das nötige Wissen, sie stocherten im Nebel. Heute haben wir das Glück, erstmals in der Menschheitsgeschichte auf wissenschaftlicher Basis erklären zu können, was mit dem Menschsein schiefläuft. Wir führen eine Existenz im Ausnahmezustand.
Wir werden zeigen, wie die Menschen in eine Situation geraten konnten, deren Brisanz nicht hoch genug einzuschätzen ist. Dafür stützen wir uns auf ein breites Feld moderner anthropologischer Forschungen, aber auch auf eine Reihe eigener Vorarbeiten. Gemeinsam analysierten wir die Bibel aus einer evolutionären Perspektive, um zu zeigen, dass ihre Schriften einem Tagebuch der Menschheit gleich die Versuche der Menschen dokumentieren, in einer Welt zu überleben, für deren Herausforderungen sie nur ungenügend gerüstet waren. In Die Wahrheit über Eva rekonstruierten wir, wie es über Jahrtausende gelang, eine solche Ungerechtigkeit wie die Unterdrückung von Frauen als Normalität erscheinen zu lassen, und welche evolutionären Strategien diesen unwürdigen Zustand ins Wanken brachten.
Carel hat zudem die Wurzeln menschlichen Verhaltens bei Affen erforscht und als Erster durch seine jahrelangen Beobachtungen im Dschungel Indonesiens nachgewiesen, dass auch Orang-Utans Kultur besitzen. Mit The Primate Origins of Human Nature legte er eine Bibel der menschlichen Natur vor. Kai spürte in seinen Büchern mit dem Archäologen Harald Meller menschheitsgeschichtlichen Umbrüchen nach, sei es dem Entstehen von Herrschaft und Despotie in den Werken zur Himmelsscheibe von Nebra, sei es dem Auftauchen erster religiös-spiritueller Spezialisten in Das Rätsel der Schamanin.
Unser Ziel ist immer dasselbe: Wir möchten ergründen, was Menschen wirklich sind und wie sie in die Bredouille geraten konnten, in der wir uns alle befinden. Dazu müssen wir der angeblichen Wirklichkeit den Schein der Normalität nehmen. Insofern ist dieses Buch auch eine Quintessenz unserer bisherigen Analysen. Doch das ist längst nicht alles. Wir werden das moderne Leben evolutionär sezieren und einen Kompass liefern, der uns durch die Fährnisse des menschlichen Alltags navigieren kann. Mehr noch: Wir hoffen dabei, Wege zu entdecken, die zu einem Menschsein führen, das sich durch mehr auszeichnet, als Ungerechtigkeiten zu produzieren und die Erde zu ruinieren. —
Bringen wir es auf den Punkt: Wir leben in einer Welt, für die wir nicht gemacht sind. Unsere Evolution vollzog sich unter gänzlich anderen Bedingungen als den heutigen. Das erst vor wenigen Jahrtausenden erfolgte Sesshaftwerden des Homo sapiens, das mit der Erfindung der Landwirtschaft einherging, stellt einen noch viel zu wenig verstandenen Gamechanger dar. Es revolutionierte die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens. Die Folge war jener kulturelle Urknall, der zur modernen Welt mit all ihren technischen Wunderwerken führte, die aber immer wieder im offenen Widerspruch zu unseren evolutionär erworbenen Intuitionen steht.
Wer herausfinden möchte, was mit dem Leben nicht stimmt, muss in die Tiefen unserer Vergangenheit eintauchen. Wenn auch gewiss ist, dass kein Weg zum ursprünglichen Dasein zurückführt (das in vielerlei Hinsicht auch gar nicht erstrebenswert erscheint), müssen wir dieses vergangene Menschsein kennen, um wirklich Mensch zu sein.
Dafür ist wichtig, das raffinierte Zusammenspiel von biologischer und kultureller Evolution zu verstehen, um herauszufinden, wo etwas grundsätzlich schiefläuft. Tatsächlich leiden wir alle an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Goethes Faust hatte es leicht: Nur zwei Seelen stritten in seiner Brust. Bei uns sind es derer gleich drei. Unterschiedlicher Herkunft, vertragen sie sich eher selten gut.
Wir wollen keine Lektionen erteilen. Wir überlassen es jedem selbst, die nötigen Schlüsse zu ziehen. Und schon gar nicht treffen wir essenzielle Aussagen über das Wesen des Menschen oder darüber, wie richtiges Leben auszusehen hat. Das sind antiquierte Konzepte, wie sie typisch waren für den Biologismus und Evolutionismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Ebenso wenig betreiben wir genetischen Determinismus, möchten die wahre Natur des Menschen enthüllen oder das romantische Ideal einer idyllischen Urzeit beschwören, in der unsere Vorfahren als Jäger und Sammler durchs Paradies flanierten.
Was wir dann tun? Wir betreiben evolutionäre Aufklärung. Viele der Schwierigkeiten, die wir traditionell als persönliche wahrnehmen, liegen nicht in unserer individuellen Verantwortung. Sie sind unser evolutionäres Erbe. Wir alle haben mit ihnen zu kämpfen – sei es Treue, die Suche nach dem Sinn des Lebens, die Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt oder die Angst vorm Tod. Wir sind überzeugt, dass die Erkenntnisse «Es ist nicht mein Fehler!» und «Ich bin nicht allein damit!» die Last von den Einzelnen nehmen und den Raum eröffnen, gemeinsam Probleme anzugehen, Antworten zu finden und die kulturellen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie uns deutlich weniger Schwierigkeiten bereiten, als das heute der Fall ist.
Menschen existieren in keinem Vakuum. Deshalb lässt sich auch nichts über «Menschen an sich» sagen, sondern immer nur über das Mensch-Sein in einer konkreten Umgebung. Entscheidend ist deshalb die Erkenntnis, dass unsere Existenzbedingungen fragwürdig sind. Wir leben in einer nahezu komplett menschengemachten, mithin künstlichen Umwelt. Und diese ist eben nicht, wie viele annehmen, das Produkt einer unaufhaltsamen Höherentwicklung und damit keinesfalls die beste aller Welten.
Nicht weniges kollidiert mit unserer evolutionär erworbenen psychologischen Grundausstattung. Diese erweist sich zuweilen als biologische Altlast, die uns das Leben schwer macht. Bedeutend heikler sind indes die kulturellen Altlasten, die es ebenfalls gibt. Es ist wichtig zu verstehen, dass unsere Normalität mit ihren Institutionen und Diskursen, Mentalitäten und Praktiken in wesentlichen Teilen das Ergebnis kontingenter, also historisch zufälliger Prozesse ist, hinter denen häufig schiere Machtinteressen steckten.
Tatsächlich ist die Kultur das eigentliche Problem, nicht die Biologie. Und das ist eine gute Nachricht. Denn Kultur ist veränderbar. In den letzten Jahren ist überzeugend herausgearbeitet worden: Neue kulturelle Lösungen für existenzielle Probleme zu finden, ist das größte Talent der Primatenart Homo sapiens. Allein die Kultur kann uns retten.
Dafür müssen wir das sogenannte normale Leben auf den Prüfstand stellen und eine Archäologie unserer selbst wie der modernen Welt betreiben. Wir werden in diesem Buch immer wieder zeigen, wo uns veraltetes Denken daran hindert, die eigentlichen Zusammenhänge zu erkennen. Allzu oft versperrt kultureller Schutt den Blick und zwingt uns auf Abwege. Wollen wir den Dingen auf den Grund gehen, müssen wir ihn beiseite räumen. —
Wir begreifen die evolutionäre Aufklärung als Beitrag zur gesellschaftlichen Emanzipation. Es geht um bedeutend mehr als nur um individuelles Wohlbefinden. Es braucht die evolutionäre Perspektive, um die Aufklärung zu vollenden und damit auch die Welt in Sachen Freiheit, Gleichheit und Solidarität voranzubringen. Das berühmte Diktum Immanuel Kants, Aufklärung sei «der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit», basiert auf einem Irrtum und ist einer der Gründe dafür, warum die Aufklärung heute in der Kritik steht. Die Unmündigkeit war nicht selbst verschuldet.
Es war den Menschen damals, Kant inklusive, schlicht unmöglich zu wissen, wo die wirklichen Probleme lagen. Da sind wir heute in einer glücklicheren Situation. Wissenschaften wie Evolutionäre Anthropologie, Verhaltensbiologie, Primatologie, Genetik, Ethnografie und Archäologie liefern fundierte Einblicke in die Vorgeschichte der Menschen und die Eigenart ihrer Kultur.
Erst in der evolutionär geweiteten Perspektive zeigt sich, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit alle auf dieselbe Wurzel zurückzuführen sind. Wir denken dabei auf der individuellen Ebene an Probleme wie Depressionen, Angststörungen, Hypersensibilitäten. Auf der gesellschaftlichen Ebene gehören fehlende Gleichberechtigung, Identitätskonflikte und soziale Ungleichheit in diesen Kontext. Und auf der globalen Ebene sind es Kriege, Klimakrise, Pandemien und die Vernichtung des unvorstellbaren Reichtums der Natur durch Raubbau und Umweltzerstörung.
Solange diese nicht in einer umfassenden Perspektive wahrgenommen werden, behandelt man sie als Einzelprobleme. Ein Teil von ihnen wird personalisiert, also den Individuen die Schuld zugeschoben. Die gesellschaftlichen Probleme dagegen werden segmentiert und zum Problem von Minderheiten erklärt, was zahllose Identitätskonflikte nach sich zieht. Und die globalen Probleme erscheinen ohne evolutionäre Perspektive als unvermeidbar und unabänderlich, weil suggeriert wird, sie entsprängen der nun mal mängelbehafteten Conditio humana. Wir seien hoffnungslose Egoisten und als Gewinnmaximierer dem ewigen Mehr! Mehr! Mehr! verfallen. Konkurrenz, Gewalt und Krieg werden als typisch menschlich ausgegeben. In allen Fällen gilt: Nichts könnte verkehrter sein.
Indem das eine universelle Problem seiner evolutionären Dimensionen entkleidet und in zahllose einzelne Probleme aufgespalten wird, erscheint es unmöglich, effektive Problemlösung zu betreiben. Das isoliert die Menschen, schürt Fatalismus und Verzweiflung und verewigt die menschliche Misere.
Deshalb ist evolutionäre Aufklärung das Gebot der Stunde. Der Vorwurf, mit uns persönlich stimme etwas nicht, verschleiert die tatsächlichen Zusammenhänge und lässt uns an Symptomen herumdoktern. Es ist Zeit für die korrekte Diagnose. Wir müssen uns endlich selbst verstehen, um die Gesellschaft menschenwürdiger zu gestalten. Kultur- oder Zivilisationskritik wird nur zu gerne als Kulturpessimismus abgetan. Das Gegenteil gilt für den hier vorgestellten Ansatz: Unsere Kritik setzt die Annahme voraus, dass man es anders machen kann. Wir sind Kulturoptimisten und fest davon überzeugt, dass wir von der Evolution für die Zukunft lernen können, um endlich auf eine Weise Mensch zu sein, die uns nicht unangenehm sein muss. Wir können es definitiv besser.
...
Kapitel 1 Wie wir Sünder wurden
Eigentlich ist das kurios: Warum suchen wir die Schuld bei uns persönlich? Oder lassen uns das zumindest so leicht einreden? Diese Fragen führen uns tief in das Verständnis der menschlichen Psychologie. Ohne zu sehr vorgreifen zu wollen: Es hängt damit zusammen, dass ungewöhnliche Zustände nach Erklärungen verlangen. Und die werden auch dann produziert, wenn nicht genügend Wissen für eine korrekte Beurteilung der Situation vorliegt. Menschen stellten also immer schon Theorien auf, was die Ursache für Krankheiten, Katastrophen oder dramatische Wetterereignisse gewesen sein könnte – und das über Jahrhunderttausende hinweg ohne jegliche wissenschaftliche Kenntnisse. Und da gehört es zu einer der ältesten, aus der Eigenart unserer Psychologie resultierenden Vermutungen, dass wir selbst an jenem Unheil Schuld tragen, das über uns kommt. Dieses sei nichts als eine Strafe der Geister, Götter oder des Schicksals für unser eigenes Fehlverhalten.
Das offerierte die Option, dass unsere Vorfahren darüber räsonieren konnten, wie es sich in Zukunft vermeiden ließe, dass übersinnliche Mächte sie mit Unheil plagten. Es handelte sich um eine List der Evolution, die uns motivierte, nach Strategien zu suchen, selbst wenn die tatsächlichen noch gar nicht zu finden waren. Wie hätte der Homo sapiens sonst überleben können? Deshalb müssen wir mit Nachsicht auf die Menschen vor uns schauen. Sie konnten es die längste Zeit nicht besser wissen.
Zu den weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens gehörte bis vor nicht allzu langer Zeit auch die Frage, wie die jeweiligen Lebensumstände zustande gekommen waren. All jenen, die bis in die jüngere Vergangenheit versuchten, die Welt und das Wesen der Menschen zu erklären, mangelte es an Kenntnissen der evolutionären Geschichte der Menschheit. Ging es um Fragen, was Menschen ausmacht und wie das Leben zu führen sei, dominierte in aller Regel eine verkürzte Perspektive, die den Blick allein auf das eigene Hier und Heute richtete und allenfalls die nähere Vergangenheit mit einbezog. Man hielt die jeweils aktuellen Lebensbedingungen für den menschlichen Normalfall.
In dieser Hinsicht haben wir uns nicht allzu sehr gebessert. Geht es um die großen Fragen, wie die nach Krieg, Religion, Liebe, dem Verhältnis der Geschlechter oder dem Sinn des Lebens, werden noch heute erstaunlich oft allenfalls die letzten drei- bis fünftausend Jahre unserer Geschichte berücksichtigt. Das ist die Zeit der sogenannten Zivilisationen oder Hochkulturen, aus denen uns schriftliche Quellen vorliegen. Einschlägige Abhandlungen setzen also oft erst bei den Griechen oder im alten Ägypten an. Hier lebt ein Vorurteil des 19. Jahrhunderts fort: Kulturen ohne Schrift – und damit die gesamte Vorgeschichte – galten als primitiv und barbarisch, als aus zeitlichen oder räumlichen Regionen stammend, in denen die Menschen sich kaum über das Tiersein erhoben hatten. Nichts also, was der Beschäftigung wert wäre.
Die Betrachtung des Menschseins war dominiert von dem, was wir Kulturblindheit nennen: Man ignoriert die kulturelle Gewordenheit der jeweiligen Lebensbedingungen, der Institutionen und sozialen Verhältnisse. Die eigene Welt wird mehr oder minder für normal, wenn nicht sogar für den menschlichen Idealzustand gehalten. Auch heute tendieren wir dazu, unsere Lebenswelt als selbstverständlich und nicht grundsätzlich hinterfragbar zu verabsolutieren.
Doch selbst wenn man sich auf die angeblich «zivilisierten» Zeiten konzentriert und damit traditionellerweise jene gut 5000 Jahre in den Blick nimmt, in denen Menschen angefangen haben, vermehrt in Staaten zu leben, bedeutet das eine extreme Reduktion. Es wird allein ein einziges Prozent der Menschheitsgeschichte berücksichtigt.
Wir pflegen damit nicht nur ein falsches Bild unserer Vergangenheit. Wir beschränken uns ausgerechnet auf jenes mickrige Prozent, in dem ein Großteil der Menschen, wie wir zeigen werden, bereits unter anomalen, zutiefst krisenhaften Umständen lebte. In solch einer radikal verzerrten Perspektive avanciert der Ausnahmezustand zur Normalität, wird die Misere zur Regel. Unberücksichtigt bleiben sage und schreibe 99 Prozent der Menschheitsgeschichte. Das sind 2,5 Millionen Jahre, wenn man die Gattung Homo berücksichtigt, oder immerhin noch 300000 Jahre, in denen der Homo sapiens existiert. Wir sind damit blind für die Wahrheit.
Diese 99 Prozent aber sind unverzichtbar. Sie stellen jenen gewaltigen evolutionären Zeitraum dar, der nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Psychologie formte. In dieser Zeit herrschten Bedingungen, wie sie nicht gegensätzlicher sein konnten zum restlichen einen Prozent. In diesen 99 Prozent lebten Menschen in kleinen, egalitären und höchst solidarischen Gruppen, die jagend und sammelnd umherzogen und sich von dem ernährten, was sie in der Natur fanden. Das soll nicht verherrlicht werden (auf die negativen Aspekte kommen wir zurück), aber die Menschen waren mit ihrer Psychologie bestens an ihre Umwelt angepasst, was dem Leben eine große Selbstverständlichkeit gab.
Wie also sollen wir uns selbst verstehen, wenn uns die eigentliche Zeit des Menschseins unbekannt ist? Erst in der evolutionsgeschichtlich geweiteten Perspektive können wir erkennen, was menschliches Leben ausmacht und warum uns das mehr als berechtigte Gefühl plagt, damit stünde es nicht zum Besten. Deshalb können wir allein aus der bisherigen Geschichte, also im engen Sinne aus der Zeit, in der Schrift vorliegt, kaum etwas lernen über uns, wohl aber aus der Totalität der menschlichen Evolution. Wir brauchen das komplette Bild. Öffnen wir die Augen. —
Ein eklatantes Beispiel für die Perspektivverkürzung haben wir in unserem Buch Die Wahrheit über Eva vorgestellt: Konzentriert man sich auf die letzten 5000 Jahre, erscheint die Unterdrückung von Frauen als Normalzustand, und Misogynie scheint Teil der männlichen Natur zu sein.
Warum das Beispiel von zentraler Bedeutung ist: Obwohl die Menschen damals in patriarchalen Gesellschaften lebten, erschien ihnen der Umstand, dass Frauen in ihrem Alltag das nachgeordnete Geschlecht waren, erklärungsbedürftig. Das heißt, es war nicht einmal den Männern selbstverständlich. Sie suchten nach Ursachen für die Schlechterstellung der Frauen. Im alten Israel schoben die Bibelautoren den Frauen die Schuld selbst in die Schuhe, indem sie die Geschichte über Eva und die Schlange erfanden. In Griechenland glaubte man den Grund in der angeblich minderen weiblichen Physis identifiziert zu haben. Mal war also Gott, mal die Natur dafür verantwortlich, dass Frauen unterdrückt wurden. Beide Narrative lieferten eine Erklärung und damit auch eine Rechtfertigung für die Schlechterstellung, indem sie behaupteten, diese bestünde mehr oder minder vom Anfang aller Tage, und schrieben sie so als Normalität fest.
Was für ein Fehler! Weitet man nämlich den Blick evolutionär, zeigt sich: Starke Frauenrollen waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Gleichberechtigung stellte während besagter 99 Prozent der Menschheitsgeschichte kein Problem dar. Im Gegenteil, ausgeglichene Geschlechterbeziehungen waren ein Erfolgsgeheimnis unserer Spezies.
Wir haben die Wahl: In der eingeschränkten Perspektive erscheint die Emanzipation als Aufstand gegen die Ordnung der Natur. In der evolutionären Perspektive dagegen wird die Emanzipation zur überfälligen Rückkehr zu einer bewährten Menschheitspraxis. Kurz: Wir sollten einen Schritt zurücktreten und den gesamten Zeitraum betrachten und nicht lediglich einen isolierten, alles andere als repräsentativen Ausschnitt. Früher war Kulturblindheit mangelndem Wissen geschuldet, heute dagegen entspränge sie bewusster Ignoranz. —
Erinnern wir uns an die Passage aus dem Matrix-Film: Das Gefühl, in der falschen Welt zu leben, sei wie ein «Splitter im Verstand». Das gilt auch fürs Leben im Ausnahmezustand der Zivilisation, da dieser in vielen Belangen im Widerspruch zu unserer evolutionär erworbenen psychologischen Grundausstattung steht. Der Zustand der Welt ist in den letzten 5000 Jahren unübersehbar durch Ungerechtigkeit, Plackerei, Leiden, Krieg, Seuchen, Vereinsamung und vieles mehr charakterisiert.
Auch wenn die Menschen nicht wussten, dass das Leben, das sie führten, im menschheitsgeschichtlich betrachteten Rahmen eine Anomalie war, spürten sie doch immer, metaphorisch gesprochen, den Splitter im Verstand. Ihrem Leben ging das Gefühl absoluter Selbstverständlichkeit ab. Keine Frage, auch an den Ausnahmezustand gewöhnen sich Menschen, unsere kulturelle Flexibilität ist enorm. Doch in bestimmten Situationen oder bei starkem Nachsinnen über den abstrusen Zustand der Welt im Allgemeinen und des Lebens im Besonderen, piesackt der Splitter den Verstand doch. Entsprechend verlangte das Gefühl, dass mit dieser Welt nicht alles in Ordnung war, stets nach Erklärungen.
Da aber das Wissen um die tatsächlichen Ursachen fehlte, versuchen sich die Menschen seit Jahrtausenden an eigenen Theorien. Bereits die alten Mythen trachteten, den merkwürdig miserablen Zustand der Welt zu erhellen. In Mesopotamien schoben sie die Schuld den Göttern zu, die sich die Menschen erschaffen hatten, damit diese für sie Sklavendienste verrichteten. Was war von solch einer Existenz schon Gutes zu erwarten? Auch andernorts machte man böse oder rachsüchtige Götter dafür verantwortlich, dass die Menschen von Unglück geplagt wurden. Das prominenteste Beispiel stammt aus dem alten Griechenland, wo die vom Göttervater Zeus unter die Menschen gebrachte Büchse der Pandora alles Übel in die Welt entließ.
Hier zeigt sich, wie der menschliche Geist funktioniert. Er setzt intuitiv auf soziale Kausalität. Für jegliches Geschehen sind Akteure als Verursacher zuständig – also auch für den schlechten Zustand der Welt. Entsprechend suchte, besser gesagt, erfand man in der Vergangenheit Ereignisse, unter deren Folgen man zu leiden hatte: Jemand musste die Schuld tragen.
Im Land der Bibel entstand der in dieser Hinsicht folgenreichste Mythos. Zur Strafe, weil unsere Ureltern Adam und Eva gegen das göttliche Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, verstoßen hatten, müssen die Nachgeborenen im Schweiße ihres Angesichts schuften, anstatt sich weiterhin selig im Garten Eden zu verlustieren. Entsprechend ist das menschliche Leben alles andere als paradiesisch.
Das Besondere dabei: In der monotheistischen Logik der Bibel war ein einziger Gott für die komplette Schöpfung verantwortlich – und der hatte die Welt gut und planvoll eingerichtet. Reales Übel konnte also nur aus menschlichen Handlungen resultieren, weil ansonsten Gott selbst die Schuld hätte tragen müssen. Die monotheistische Logik der Tora, der Fünf Bücher Mose, unterscheidet sich damit radikal von der Welt der vielen Götter.
Bei vielen Göttern gibt es immer auch böse oder zumindest dunkle Gottheiten, denen die Menschen die Urheberschaft für irdisches Unglück zuschreiben konnten. Überdies bestand in einer polytheistischen Vorstellungswelt die Option, Unheil als Kollateralschaden göttlicher Zwietracht zu interpretieren. Das berühmteste Beispiel ist der Krieg um Troja, der aus dem Streit der Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite resultierte.
Solch eine Option kommt bei einem einzigen Gott nicht infrage. Gott schickte keine Katastrophen aus Versehen oder schlechter Laune, sondern allein als Strafen; daran lassen Genesis und Co. keinen Zweifel. Er musste also jeweils einen Grund gehabt haben. Folglich war jeder Krankheit oder Katastrophe ein menschliches Fehlverhalten vorausgegangen, das Gott sanktionierte. Ohne Delikt keine Strafe! Da Gott für alles Übel zuständig war, das über die damalige Welt hereinbrach, ist es kein Wunder, dass er im Alten Testament so schrecklich zornig daherkommt – und die Menschen so schrecklich sündig erscheinen. Der Aufstieg des biblischen Jahwes zum einzigen Gott hatte den Sündenfall der Menschen zur Folge.
Entsprach das Leben nicht den Ansprüchen an einen guten Gott, konnte das nur eine Strafe für irdische Sünden sein. In diesem Fall waren die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden, weil Eva sich nicht an das göttliche Gebot gehalten hatte. Das Christentum wird Evas Fehlgriff erst zur Ur-, dann zur Erbsünde machen: Von Geburt an sind die Menschen mit Schuld belastet. Nur Kirche und göttliche Gnade können vor der ewigen Verdammnis retten. Die Kirche wird von den Menschen verlangen, regelmäßig ihre Sünden zu beichten, um in ihnen das Schuldbewusstsein Tag für Tag am Leben zu erhalten.
Hier also ist das Narrativ vollendet, das für Jahrtausende den Menschen eingebläut wird: Es ist gar nicht das Leben, das absonderlich ist. Es liegt an ihnen. Sie sind schuld! Und der Splitter im Verstand? Der wird den Menschen als Versuchung des Teufels verkauft, der danach trachtet, über sie Macht zu gewinnen. Die Religion ist eine Normalisierungsmaschine. Sie adelt den Ausnahmezustand zum Normalfall.
Bevor wir fortfahren: Manche mögen zweifeln, ob Menschen tatsächlich immer den metaphorischen Splitter spürten, das Gefühl, dass die Welt schlecht und ungerecht eingerichtet sei. Ist das nicht nur eine Projektion unserer modernen Befindlichkeiten? Ein Tribut an den «woken» Zeitgeist? Nein, nicht nur die Vielzahl an Erklärungsmythen, von denen wir hier lediglich eine Handvoll genannt haben, stützt unsere These. Wir können als Beweis das bereits vorgestellte Beispiel männlicher Dominanz anführen. Der Frauenprotest gegen diese ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass Menschen stets den Splitter spürten. Wäre da nämlich kein biologisch verankertes Gerechtigkeitsgefühl, wäre also alles nur Kultur und damit Sache von Sozialisation, hätten sich Frauen nach 5000 Jahren Patriarchat längst in ihr Schicksal gefügt. Sie hätten es zu hundert Prozent verinnerlicht und wären den Herren der Schöpfung treu ergeben; da regte sich kein Gefühl des Widerstandes mehr. Aber nein, trotz Jahrtausenden, in denen Männerherrschaft als gott- oder naturgegeben galt, spürten Frauen zu allen Zeiten die Empörung über die Ungerechtigkeit ihrer Situation. —
Wie konnte die Unterstellung, wir seien schuldbeladen und leichte Beute des Bösen, so erfolgreich werden? Nun haben wir da, wie kurz angedeutet aus evolutionärer Notwendigkeit einen wunden Punkt und suchen nur zu leicht die Schuld bei uns. Doch es kam mehr hinzu. Zum einen handelte es sich um einen negativen Gottesbeweis: Wenn Menschen den Splitter spüren und diesen in christlicher Tradition als Werk des Teufels deuten, spüren sie die Wahrhaftigkeit des Glaubens: Denn wo es den Herrn des Bösen gibt, muss schließlich auch Gott existieren.
Zum anderen haben wir es mit einem perfekten Unterdrückungsinstrument zu tun, geschaffen und propagiert in Diensten der Herrschaft. Der römische Kaiser Konstantin war vom Christentum nicht etwa wegen dessen Barmherzigkeit begeistert. Er erkannte darin die ideale Stütze weltlicher Macht, indem er sich zum irdischen Stellvertreter des einzigen und allmächtigen Gottes erklärte. Damit ebnete er den Weg zu jener unheiligen Allianz von Thron und Altar, die das christliche Abendland dominieren wird.
Sind nämlich Menschen von Natur aus böse und sündhaft, wie es die Kirche spätestens seit Augustinus von Hippo (354–430) lehrte, braucht es die harte Hand kirchlicher und staatlicher Autoritäten, um die Welt vorm Schlimmsten zu bewahren. In dieser Tradition wird noch die Reformation Martin Luthers stehen. Zugleich legitimiert das Narrativ nicht nur Herrschaft, es verschleiert sie auch: Das eigentliche Problem nämlich, das anomale Leben, wird unsichtbar gemacht, indem es in unzählige Einzelphänomene aufgelöst und in die individuelle Verantwortung der Menschen gelegt wird. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Die Behauptung, wir als Individuen seien schuld am desolaten Zustand der Welt, ist ein uraltes Narrativ der Unterdrückung. —
Hier zeigt sich die politische Dimension, die nur aus heutiger Perspektive überraschen kann. Denn bei den offiziellen Religionen handelt es sich, wie wir noch sehen werden, um Herrschaftsreligionen, die der Legitimation weltlicher Macht dienten. Entsprechend erwies sich die Frage, ob Menschen nun sündhaft sind oder nicht, als Kristallisationspunkt politischer Debatten der Neuzeit, und zwar seitdem die wissenschaftlichen Revolutionen die Glaubwürdigkeit der biblischen Erzählungen zerrüttet hatten.
In den letzten 500 Jahren spekulierten Philosophen mit Vorliebe über den «Naturzustand» der Menschen. Auf der einen Seite betonten Denker wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau, dass die Menschen ursprünglich in einer herrschaftsfreien Welt lebten, und begründeten damit eine Vorstellung von Menschenrechten, die sie gegen staatliche wie kirchliche Willkürherrschaft in Stellung brachten. Auf der anderen Seite standen Philosophen wie Thomas Hobbes, der postulierte, «dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie im Zaum haltende Macht leben, sich in … einem Krieg eines jeden gegen jeden befinden». Im Naturzustand habe «beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes» geherrscht. Das menschliche Leben sei «einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz» gewesen. Deshalb sei staatliche Autorität unverzichtbar.
Die Theoretiker einte eine Tatsache: Sie alle hatten nicht die geringste Ahnung, wie sich die Urgeschichte des Homo sapiens wirklich darstellte. Ihnen ging es allein darum, mittels eines imaginierten Naturzustands ihre jeweiligen politischen Positionen zu legitimieren. Tatsächlich wird fortan die Frage nach dem Wesen des Menschen zur politischen Demarkationslinie: Konservative und rechte Kräfte betonen in der Regel die Schlechtigkeit der menschlichen Natur, schließlich sind sie Apologeten der Macht, des Staates oder der Nation und müssen deren Herrschaftsansprüche begründen. Progressive und Linke setzen dagegen auf ein positives Menschenbild.
Diese Auseinandersetzung dominierte noch den Kalten Krieg. Protagonisten des Neoliberalismus wie der Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August Hayek werden dem Marxismus vorwerfen, auf der falschen Maxime zu gründen, dass der Mensch gut sei, und der kapitalistische Westen in der Systemkonkurrenz den sozialistischen Mächten des Ostens überlegen sei, weil er auf einem realistischeren, nämlich egoistischen Menschenbild basiere.
Auch dies ein Grund, warum die Frage nach der menschlichen Evolution die Gemüter erhitzt. Es geht die Furcht um, dass wissenschaftliche Erkenntnisse die eigene politische Position gefährden. Doch das ist in doppelter Hinsicht ein Irrtum. Einmal lauert hier der naturalistische Fehlschluss, die verkehrte Annahme, dass als «natürlich» identifizierten Verhältnissen die Macht zukäme, festzulegen, wie Menschen leben sollten. Und wir begegnen hier der ebenso falschen Annahme, dass sich Menschen als gut oder böse beschreiben ließen.
Solcher Essenzialismus, die Annahme, wir besäßen ein festes Wesen und eine fixe moralische Qualität, ist ein Relikt religiösen Denkens. Er entspringt der Auffassung, Menschen seien von einem Schöpfer oder der Natur erschaffen und mit Sinn und Zweck ausgestattet worden. Diese Vorstellung hat die Religion nicht nur überlebt, sie ist fälschlicherweise sogar auf die Evolution übertragen worden. Diese wurde in Augen vieler zu einer Art Gott. Doch das ist unaufgeklärtes religiöses Erbe. Aus dem Gut-Böse-Narrativ und den daraus resultierenden Schuldzuweisungen müssen wir uns befreien. —
Mit dem Fall der Mauer 1989 scheint der Kapitalismus alternativlos geworden zu sein. Tatsächlich liegt sein Erfolg nicht zuletzt darin begründet, dass er die aus dem Christentum stammende Unterstellung, wir seien schuldige Wesen, kultivierte – uns aber Absolution erteilte. Zwar basiert der Kapitalismus auf dem negativen Menschenbild, Menschen seien selbstsüchtige Wesen, die an der Verwirklichung ihres Eigennutzes arbeiteten (Homo oeconomicus). Doch dem Markt gelänge das Wunder, im freien Spiel der Kräfte die Einzelegoismen ins Beste des Allgemeinwohls zu verwandeln und sie so zum Motor des Fortschritts zu machen. «Sei ruhig egoistisch», lautet die frohe Botschaft des Kapitalismus, «du wirkst damit nur zum Wohle aller.» Man kann es das Mephisto-Prinzip nennen. Der Leibhaftige behauptete auch, dass er, obwohl er stets das Böse wolle, stets das Gute schaffe.
Zugleich beweist der Kapitalismus sein Geschick, noch unser Unwohlsein auszubeuten, indem er darauf ein Businessmodell aufbaut. Spüren wir einmal den Splitter im Verstand, verspricht er, wir müssten nur an unserer Resilienz arbeiten und unser Leben optimieren, und schon werde alles gut. Der Markt der Ratgeber, des Coachings, der Therapien, ja, des Biohackings ist unüberschaubar und verkauft uns Angebote jeglicher Couleur, die uns in körperlicher wie mentaler Hinsicht verbessern wollen, um endlich den Herausforderungen der modernen Welt gerecht werden zu können.
Doch das Ziel des Marktes ist nun mal die perfekte Kommerzialisierung – und sei es die der menschlichen Misere. Es geht ihm eben nicht darum, Menschen zu helfen. Folglich liegt bis heute keine ultimative Gebrauchsanleitung für die menschliche Existenz vor, die alle anderen überflüssig macht. Stattdessen ertrinken wir in einer Flut von Optimierungsangeboten, mögen die auch noch so widersprüchlich sein. Das macht die Ratgeberbranche unwiderstehlich: Weil kein Ratgeber die Lösung liefert, braucht es immer neue. Der chronische Misserfolg stellt das eigentliche Erfolgsgeheimnis dar.
Was die Nachfrage angeht, ist der Markt schließlich riesig: Auf der einen Seite sind jene, die in der Konkurrenz auf der Strecke bleiben, die sich dem Hamsterrad verweigern oder mit Depressionen auf die Zumutungen des modernen Wirtschaftens reagieren. Auf der anderen stehen alle, die den Wettbewerb annehmen und zur besten Version ihrer selbst werden möchten, um sich in der Konkurrenz durchzusetzen. Selbstoptimierung ohne Ende – das Perpetuum mobile des Kapitalismus.
Das soll nicht heißen, hier seien nur Zyniker am Werk. Im Gegenteil, die allermeisten sind ehrlich bemüht, Menschen zu helfen. Und es gelingt ihnen auch im Einzelfall innerhalb des Systems. Doch damit halten sie es am Laufen und zementieren den Mythos, Konkurrenz sei der menschliche Normalzustand. Zeit für die rote Pille! Wir haben uns viel zu lange die Schuld einreden lassen.
Aus Teil 2 Die drei Naturen des Menschen
Kapitel 6 Archäologie des Menschen
…
Wer sind wir wirklich? Ohne dass dies esoterisch klingen soll, lautet die Antwort: Wir sind prismatische Persönlichkeiten. Es verhält sich mit uns ähnlich wie mit dem Sonnenlicht. Das scheint auf den ersten Blick homogen weiß. Bis es auf Regentropfen trifft oder ein Prisma. Dann fächert sich das Licht nach seinen Wellenlängen auf und enthüllt ein Spektrum an Farben. Immer wieder stehen wir sprachlos vor der Farbfülle eines Regenbogens. Mit Menschen ist es ähnlich. Mögen sie auch wie aus einem Guss erscheinen, stecken in ihnen überaus disparate Dimensionen, verschiedene Sphären des Menschseins. Mittels unserer Analyse werden wir sie wie durch ein Prisma auffächern. Denn – und das sollte nach unseren bisherigen Ausführungen nicht mehr kryptisch klingen: Wir sind Produkte der biologischen und kulturellen Evolution, Geschöpfe eines sich immer weiter anreichernden Prozesses. Vereinfacht gesagt, wurzeln diese Schichten in unterschiedlichen Zeiten. Um das zu veranschaulichen, haben wir das idealtypische Modell der drei Naturen entwickelt. …
Erste Natur
Zur ersten Natur rechnen wir unsere Intuitionen, das Bauchgefühl, spontane Vorlieben und Gefühlsreaktionen wie Angst oder Ekel, aber auch bestimmte Wahrnehmungskategorien und Handlungsoptionen. Die erste Natur meldet sich nahezu automatisch, wenn sie getriggert wird. Aber sie zwingt uns zu keiner bestimmten Reaktion, sondern eröffnet einen Handlungsspielraum. Sie gibt nur die Grenzen vor. Alles, was zur ersten Natur gehört, muss nicht oder allenfalls in geringen Maßen erlernt werden. Da sie angeboren ist, ist sie einfach da und völlig selbstverständlich. Dass sie auf diese oder jene Weise kultiviert, aber auch unterdrückt werden kann, versteht sich von selbst. … Zu unserer ersten Natur gehören ein Sinn für Fairness und Gemeinschaft, Empathie, eine Art natürliche Moral, die das zwischenmenschliche Miteinander reguliert, das Streben nach einer guten Reputation, die Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern, die Annahme, dass hinter den Geschehnissen der Welt soziale Akteure stehen, aber auch ein ausgeprägtes Gruppendenken, das mitunter erschreckend schnell bereit ist, andere zu verteufeln. Und Blut ist für uns nun mal dicker als Wasser – wir bevorzugen Verwandte, mit denen wir das Erbgut teilen. Aber nichts davon determiniert ein starres Verhalten: Menschen sind von ihrer ersten Natur her Karnivoren, fleischessende Wesen. Trotzdem entscheiden sich heute immer mehr, als Vegetarier oder Veganer zu leben. Wir sind keine Sklaven der Biologie. Vieles der ersten Natur wurzelt tief in unserer äffischen Vergangenheit und findet sich auch bei anderen Primaten. Ihre spezifische Ausprägung aber erfuhr sie in jenen 99 Prozent der Menschheitsgeschichte, in denen wir in kleinen Gruppen als mobile Jäger und Sammler lebten. Diese Lebensweise hat die erste Natur am nachhaltigsten geprägt
Zweite Natur
…
Die variablen, kulturell erworbenen Fähigkeiten, Überzeugungen und Einstellungen nennen wir zweite Natur. Zweite Natur, weil sie sich so natürlich anfühlt, dass wir uns nicht einmal der Tatsache bewusst sind, dass das meiste davon erlernt ist. Dazu gehören neben Formen der Nahrungsbeschaffung und Technologie Traditionen aller Art, Sitten, Gebräuche, Mentalitäten, Normen, Werte, Konventionen und Stereotype, auch kulturelle Geschlechterrollen (Gender).
Alles, was wir von klein auf durch Sozialisation verinnerlicht haben; alles, von dem wir genau wissen, ob es sich gehört oder nicht, ist uns zur völlig selbstverständlichen zweiten Natur geworden. Eine Metapher übrigens, die seit der Antike Verwendung findet. Zweite Natur ist folglich das, was der Soziologe Pierre Bourdieu den Habitus nennt: «Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.» Ihre Inhalte können jahrhundertealt sein, aber auch gerade erst jenem Zeithorizont entstammen, in dem die Sozialisation der Individuen stattfindet. Die Inhalte der zweiten Natur speisen sich in der Regel aus den herrschenden Werten einer Gesellschaft. Und wie auch Kultur und Normen in der Vergangenheit auf keine sonderlich demokratische Weise zustande gekommen sind, gehört viel Aufgezwungenes zur zweiten Natur. Dabei gilt jedoch oft: Umso intensiver der Zwang, umso weniger gut schreibt es sich den Menschen ein. Betrachten wir einige Beispiele.
Menschen verlieben sich. Das ist die erste Natur. Paarbindungen werden geknüpft. Immer noch erste Natur. Aber dann schreiben ihnen die gesellschaftlichen Maximen vor, dass sie als Paar exklusiv zusammenbleiben sollen und nicht als Ménage-à-trois oder in anderen Konstellationen und dass sie das so lange machen müssen, bis der Tod sie scheidet. Jetzt haben wir es mit der zweiten Natur zu tun. In einer bestimmten Gesellschaft fühlen sich diese Arrangements normal, sogar natürlich an. Doch sie sind Erfindungen, die sich durchgesetzt haben und zu Normen geworden sind, an deren Umsetzung es jedoch mitunter hapert.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: persönliche Besitztümer. Sie sind überall zu finden, aber ursprünglich hatten die mobilen Jäger und Sammler nur sehr wenig davon, und was sie besaßen, trugen sie am Körper oder hatten es in ihrer Nähe. Land war Gemeinschaftseigentum, Großgeräte gab es keine. Noch heute gehen kleine Kinder spontan in Häuser anderer Leute und glauben, sie könnten sich nehmen, was sie möchten. Das ist die erste Natur. Die Kleinen müssen erst Achtung vor dem Besitz anderer lernen und dass sie selbst dann nicht zugreifen dürfen, wenn der Besitzer abwesend ist. Hat man diese Regeln einmal als zweite Natur verinnerlicht, kann man sich nicht mehr vorstellen, dass es anders sein könnte. …
Es ist verblüffend: Was wir von Kindheit an kulturell erworben haben, fühlt sich oft nicht anders an als das, was wir erste Natur nennen, als die angeborenen Dispositionen des Menschen – doch es wird deutlich vehementer verteidigt. Elemente der zweiten Natur besitzen eine penetrante Hartnäckigkeit. Sie sind auch konfliktträchtig. Da unsere angeborene Grundausstattung universell, also bei allen Menschen weitgehend gleich ist, bietet sie kaum Potenzial zu Streit oder Auseinandersetzungen. Im Gegenteil: Die erste Natur ist die Grundlage, auf der immer ein Dialog über alle Grenzen hinweg möglich ist. Da aber die zweite Natur sehr verschieden sein kann, sich teils diametral unterscheidet, ist sie es, die für Ärger unter den Menschen sorgt. So gut wie alle Auseinandersetzungen drehen sich um kulturelle Phänomene. …
Es ist die Kultur, die selektiert und wertet. Youval Noah Harari formulierte prägnant: «Die Natur erlaubt, die Kultur verbietet.» Die zweite Natur akquiriert – oder sollen wir sagen: parasitiert – dazu Mechanismen unserer ersten Natur. Sie nutzt ererbte Gefühlsreaktionen für die eigenen Zwecke: Menschen reagieren mit Ekel (erste Natur) auf die Speisegewohnheiten anderer (zweite Natur): «Wie kann man nur Hunde/Schweine/Kühe/Tiere essen?» Woher diese Treue gegenüber bloß erlernten Inhalten stammt, werden wir in unserem Kapitel zum Konformismus thematisieren.
Dritte Natur
Wenn also die erste Natur unsere natürliche Natur ist und die zweite die kulturelle Natur, dann ist die dritte unsere rationale, die Vernunftnatur. Sie greift nicht auf interne, fest etablierte, also biologisch oder kulturell vorprogrammierte Reaktionsmuster zurück. Sie ist unser unmittelbares Problemlösungsinstrument und bedient sich der Logik (oder was wir gerade dafür halten) und Argumente. Es handelt sich auch hier durchweg um kulturelle Erfindungen. Zu unserer dritten Natur gehören jene Maximen, Praktiken, Institutionen, denen wir aufgrund einer weitgehend bewussten Rationalität folgen – etwa nach genauem Abwägen einer Problemlage. Das bedeutet nicht, dass Regeln durch und durch rational sein müssten, um befolgt zu werden (oder dies aus wirklicher Überzeugung geschieht). Vielmehr scheint es vernünftig zu sein, ihnen zu folgen, weil sie gerade Common Sense sind oder Schwierigkeiten drohen, wenn man sie missachtet.
Beispiele für die dritte Natur sind all jene Dinge, die wir nur widerstrebend tun, obwohl wir wissen, dass sie gut für uns sind oder zumindest vernünftig wären: sich gesund ernähren, die Treppen nehmen, Alkohol meiden, regelmäßig Sport treiben, uns an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, nicht über Witze lachen, die politisch inkorrekt sind, Arbeiten schon vor dem Nahen der Deadline erledigen. Auch die guten Vorsätze, die wir jedes Jahr aufs Neue fassen, sind typische Produkte der dritten Natur. Warum ihre Umsetzung immer wieder scheitert? Sie sind eben nur vernünftig und stehen im Widerspruch zu den Bedürfnissen unserer ersten Natur oder den Gewohnheiten der zweiten Natur. Es braucht Disziplin, sie zu befolgen.
Viele Aspekte aus dem Reich der Vernunftnatur bleiben nur äußerlich. Das liegt an ihrer Neuheit oder dem Umstand, dass sie den angeborenen Neigungen unserer ersten Natur zuwiderlaufen und folglich Gefühle der Unlust provozieren. Ebenso stehen ihnen zuweilen die Vorgaben der zweiten Natur im Wege. Auch können sie kognitiv sperrig sein, also nicht unmittelbar einleuchten. Viele Zweite-Natur-Bräuche haben ihre Karriere als dritte Natur begonnen (manche sind aber auch durch Zufall entstanden und bewährten sich so, dass sie beibehalten wurden). Neue Dritte-Natur-Lösungen, die sich als hilfreich erweisen und nicht zu sehr in Opposition zu unserer ersten Natur stehen, können mit der Zeit zur zweiten Natur werden. Oder sie werden mit Zwang von oben durchgesetzt – um nicht zu sagen: eingeprügelt.
Der Prozess der Habitualisierung, der Verinnerlichung, bis Dinge zur selbstverständlichen Gewohnheit werden, benötigt Zeit. Vollendet ist er erst dann, wenn das Wissen um die Erworbenheit verschwunden ist. Entsprechend ist die Grenze zwischen zweiter und dritter Natur nicht scharf: Manche von uns haben Gewohnheiten der dritten Natur vielleicht schon so verinnerlicht, dass sie sich wie zweite Natur anfühlen, und zweifeln nie daran, während andere das viel lockerer nehmen. Ein banales Beispiel: Das Warten bei roter Fußgängerampel ist für die einen absolut selbstverständlich, sogar nachts, wenn niemand in der Nähe ist und kein Auto kommt. Für andere ist das lediglich eine Konvention, der man vernünftigerweise nur Folge leistet, wenn Kinder in der Nähe sind oder die Polizei.
Die Zeitebene der dritten Natur ist mehr oder minder die der Gegenwart, weil sie mit einer bewussten Entscheidung einhergeht. Sie kommt vor allem zum Tragen angesichts neuer Herausforderungen, für die es noch keine funktionierenden biologischen oder kulturellen Lösungen gibt. Aber auch in Konfliktsituationen, in denen verschiedene Standpunkte aufeinandertreffen und begründet werden müssen. Entsprechend ist sie in ungewohnten Situationen gefragt, wenn wir mit überraschenden Ansprüchen oder neuen Positionen konfrontiert werden. Tatsächlich geschieht das in der heutigen, sich schnell wandelnden Welt immer öfter. Deshalb sollten wir uns nun ansehen, warum die drei Naturen vermehrt aneinandergeraten und uns das Leben schwermachen. ...
Aus Teil 3 Unsere soziale Ader
Kapitel 10 Wir Konformisten
Das Gruppenleben hat uns mehr geprägt, als uns lieb sein sollte. Es stattete uns mit Eigenschaften aus, die lange Zeit evolutionär Sinn machten, heute aber zuweilen unangenehmer Natur sind. Sie verlassen uns nicht; verstehen wir jedoch ihre Funktionsweise, sollten wir in der Lage sein, sie zu kontrollieren. Wir müssen dem alten Affen in uns nicht ständig Zucker geben.
Unsere Vorfahren waren, wie gesehen, völlig aufeinander angewiesen. Sie mussten einander in gefährlichen Situationen blind vertrauen und sicher sein, dass sie in der Not von anderen versorgt wurden. Sie konnten sogar Gegenleistungen einfordern für Hilfe, die sie viele Jahre zuvor erbracht hatten, und dies auch bei Menschen außerhalb der eigenen Gruppe. Ein feines Netz gegenseitiger Verpflichtungen verband die Gemeinschaften, nicht weniges davon in Geschichten oder Mythen gegossen und somit über Generationen hinweg belastbar. Das war fürs Überleben, für die Fitness, unerlässlich. Entsprechend haben sich die Großzügigkeit, die Gefühle der gegenseitigen Verpflichtung und der Drang, einen guten Ruf zu erlangen und aufrechtzuerhalten, tief in unsere Psychologie eingebrannt.
Wie gesagt: Nett zu sein, ist gut für uns und gibt ein wohliges Gefühl – solange alle mitspielen. Das System ist gefährdet durch jene, die bloß ihren eigenen Nutzen im Sinn haben und gerne einmal ihre Verpflichtungen gegenüber anderen vergessen (was evolutionär betrachtet durchaus eine erfolgversprechende Strategie sein kann). Folglich sind die zu Vertrauensseligen nicht unsere Vorfahren geworden.
Die Evolution setzte deshalb auf gesundes Misstrauen. Entsprechend verlangen wir nach handfesten Glaubwürdigkeitsbeweisen: Wir wollen sehen, dass wir auf Menschen wirklich zählen können. In der Forschung spricht man von CREDs, «Credibility Enhancing Displays». Taten sprechen nun mal lauter als Worte. Erzählen lässt sich viel. Mit einer engagierten, aufwendigen oder mit Kosten verbundenen Aktion sind dagegen unsere Herzen zu gewinnen. Entsprechend oft sind gefährliche Mutproben als Initiationen zu absolvieren, will man in einen exklusiven Kreis aufgenommen werden. —
Wir wollen freundlich sein, aber nicht ausgenutzt werden. Das kennen wir aus dem Alltag. Wir beschweren uns über Faulpelze in unserem Umfeld, am bittersten über diejenigen, die uns gerade dann im Stich lassen, wenn es wirklich zählt. Bei Verwandten und Vertrauten sind wir nicht zu streng. Wir kennen sie gut und wissen, dass ihre unterlassene Hilfeleistung auf persönliche Schwächen oder fehlenden Mut zurückzuführen ist und nicht auf böse Absichten. In den kleinen Gruppen zählte jeder Kopf, entsprechend gehören auch Nachsicht und Verzeihen zu unserer ersten Natur.
Seitdem sich die Sprache entwickelt hat, verbringen die Menschen einen Großteil ihrer Zeit damit, über die guten und schlechten Taten von Verwandten und Bekannten zu diskutieren und soziale Ereignisse endlos wieder aufleben zu lassen. Funktional gesprochen läuft dies auf eine sich ständig aktualisierende Reputationsbewertung hinaus: Wer hat was wann wem angetan, und was sagt das über die Vertrauenswürdigkeit aus?
Heutzutage belächeln wir das als Klatsch und Tratsch, doch in der Welt der gegenseitigen Abhängigkeit war das lebenswichtige Informationsbeschaffung. Der beständige Austausch stellte die primäre Strategie dar, herauszufinden, wer freundlich ist, wer unberechenbar und wer betrügen könnte. Das Getuschel ermöglichte es, über die eigene direkte Erfahrung hinauszugehen, und machte so viel mehr Menschen als potenzielle Partner für Zusammenarbeit oder Austausch verfügbar.
Menschen sind nun mal die wichtigsten Interaktionspartner, deshalb ist unser Informationshunger auch heute noch maßlos. Wieder einmal hat uns die Evolution mit keinem Sättigungsgefühl ausgestattet. Der Promikult unserer Tage zehrt davon, aber auch unsere Leidenschaft für Krimis und «True Crime»-Geschichten. Da kitzelt uns nicht nur die Spannung, sondern auch das Bedürfnis, unseren zwischenmenschlichen Gefahrendetektor zu trainieren: Wir wollen alles lernen, um Scharlatane, Soziopathen und Gewalttäter verlässlich zu identifizieren. Der Klatsch besitzt längst nicht mehr die einstige Relevanz, wir sind in viel geringerem Maße von unseren Mitmenschen abhängig. Trotzdem spielt auch seine dunkle Seite noch eine Rolle. Gezielte Desinformation gehört seit je zu unserer sozialen Klaviatur. Ein bisschen lästern, andere durch Gerüchte oder eine fallen gelassene Unterstellung manipulieren – das hatten wir stets im Repertoire, um die eigene Position zu verbessern. Die Evolution machte uns zu sozialen Genies, im Guten wie im Schlechten. —
Die größte Herausforderung für ein vertrauensbasiertes Zusammenleben stellten schon immer Menschen dar, die man nicht persönlich kannte. Mitunter konnte das Netzwerk mit anderen Gruppen so groß werden, dass nicht alle hinreichend durch ihren Ruf vertraut waren. Immer mal wieder stießen Menschen aus entlegeneren Regionen dazu. Die Fremden sprachen zwar dieselbe Sprache und kleideten sich ähnlich – aber konnte man ihnen vertrauen?
Menschen trafen auch in Jäger-und-Sammler-Tagen auf unbekannte Personen. Besondere Objekte wie Obsidian für messerscharfe Klingen oder Schmuckmuscheln wurden schon früh über große Entfernungen herbeigeschafft. Und auch wenn es um die Partnerwahl ging, zogen unsere Vorfahren attraktive Fremde den Nachbarn und all jenen vor, die sie seit der Kindheit kannten. Auf diese Weise vermieden sie Inzucht und erhöhten die Überlebenschancen der Kinder. Erst in der sesshaften Welt begannen die Menschen, diese Tendenz, die sich auch bei anderen Tierarten findet, außer Kraft zu setzen. Die Vererbung von Privateigentum war einmal mehr der Gamechanger: Das Gleichgewicht von Kosten und Nutzen veränderte sich. Der Nutzen, den es mit sich brachte, den fitnesssteigernden Reichtum innerhalb des Kreises der Verwandten zu halten, überwog fortan die Kosten in Gestalt eines höheren Risikos für Erbkrankheiten infolge von Inzucht. Verwandtenehen werden zu einem Charakteristikum der patriarchalen Welt.
Um die Zuverlässigkeit von Fremden zu beurteilen, hat die natürliche Selektion eine Reihe von Mechanismen installiert. Wir geben es nicht gerne zu, aber jedes Mal, wenn wir einer unbekannten Person begegnen, die vom Durchschnitt abweicht, müssen wir eine Vermeidungsreaktion überwinden. Auch das ist eine biologische Altlast, die sich nicht leugnen lässt. Das wäre ein moralistischer Fehlschluss, demzufolge nicht sein kann, was nicht sein darf. Abgewöhnen kann man sie sich aber schon. Viele sozialwissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass wir dazu neigen, unbekannten Menschen mehr zu vertrauen, wenn sie uns ähneln, etwa weil sie einen ähnlichen Dialekt sprechen oder ihr Gesicht dem Durchschnitt der jeweiligen Bevölkerung entspricht.
Die Herausforderung lautete: Die Notwendigkeit, mit Menschen umzugehen, die wir nicht ewig kennen, war mit dem Risiko in Einklang zu bringen, uns unzuverlässige oder sogar betrügerische Partner oder Partnerinnen einzuhandeln. Dass dieser Druck in beide Richtungen stark war, zeigt sich darin, dass Menschen, die sich kennenlernen und erste Hinweise auf die Vertrauenswürdigkeit des anderen erhalten, beiderseits anfangen, sich zu mögen. Diese Tendenz – in der Sozialpsychologie Homophilie genannt – ist letztlich nur eine Zuspitzung dessen, was wir alle in unserem täglichen Leben tun. Wenn zwei Menschen harmonieren, neigen sie dazu, die Handlungen und Haltungen des anderen zu imitieren und sogar zu synchronisieren. Solche Mimikry ist weit verbreitet, unbewusst und bereits bei Affen zu finden. Mag man jemanden nicht, ist es unwahrscheinlicher, dass man sich auf solch ein Nachahmungsspiel einlässt, Gefühle der Freundschaft entstehen dann keine.
Homophilie und Mimikry sind also natürliche Mittel, um Freundschaften zu schließen und zu erhalten. Militär und Sportteams nutzen das, denn es funktioniert auch, wenn ganze Gruppen ihre Aktionen synchronisieren. Tanz ist da die ursprüngliche gemeinschaftsstiftende Körpertechnik, die, wenn sie noch von Gesang begleitet wird, ein rauschhaftes Gruppengefühl entstehen lässt. Und wie lautet die Anweisung an alle Touristen? When in Rome do as the Romans do. —
Wenn ein Individuum neu in einer sozialen Gruppe ist, steht es unter Druck, aufgenommen zu werden. Bei allen Primatenarten verlässt eines der Geschlechter mindestens einmal im Leben seine Geburtsgruppe und wird zum Einwanderer in eine fremde Gruppe. Das ist ein stark verankertes spontanes Verhalten, um Inzucht zu vermeiden. Da diese Gruppen im Gegensatz zu Menschengruppen nicht befreundet sind, ist die Migration riskant. Das führte zu bemerkenswerten Anpassungen. Einwanderer – wir sprechen hier von einzelnen Individuen – haben klare Verhaltensstrategien, um akzeptiert zu werden.
In sozialer Hinsicht sind die neuen Gruppenmitglieder unauffällig und harmlos und bieten jenen Affen, die bereit sind, sich mit ihnen abzugeben, ihre Fellpflege an, um soziale Nähe herzustellen. In der Regel handelt es sich dabei um rangniedrige, periphere Mitglieder, mit denen die Einwanderer zuerst Kontakt aufnehmen. Mit der Zeit dehnen sie dann ihr soziales Netz aus. Experimente zeigen, wie sie anfangen, dieselbe Nahrung zu fressen, bestimmte Früchte etwa, die sie vorher nicht anrührten, oder Werkzeuge so zu gebrauchen, wie die einheimischen Affen es tun. Selbst dann, wenn sie das in ihrer Herkunftsgruppe noch anders gehandhabt haben. Äffische Migranten nehmen sogar bedeutungslose Ticks an, die an einem Ort praktiziert werden: Zwei neue Weibchen wurden in die Schimpansengruppe eines Zoos eingewöhnt, wo die alten Weibchen eine ungewöhnliche Art des Gehens erfunden hatten. Die eine ahmte das sofort nach und war rasch von allen akzeptiert. Die andere tat das nicht und verkehrte auch nach mehreren Monaten noch am Rande der Gruppe.
Dutzende von Millionen Jahren haben den Drang, sich an die Gepflogenheiten einer Gemeinschaft anzupassen, zu einem tief verankerten Bestandteil der ersten Natur von Primaten gemacht. Wir nennen das Konformismus. Ein entsprechendes Bedürfnis haben wir alle von unserer Affenverwandtschaft geerbt. Konformismus lässt sich als einseitige, sehr akribische Mimikry bezeichnen, die der biologischen Funktion folgt, Homophilie und damit soziale Akzeptanz bei den angestammten Gruppenmitgliedern hervorzurufen.
Menschenkinder ähneln Einwanderern in mancher Hinsicht: Sie sind neu in der Gesellschaft. Auch sie müssen lernen, wie sie sich in ihrer besonderen sozialen Welt zu verhalten haben und was sie tun müssen, um von denen gemocht zu werden, die schon vor ihnen da waren. Deshalb müssen Kinder so schnell wie möglich all die Gewohnheiten und Einstellungen in sich aufnehmen, die zusammen die zweite Natur bilden.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass kleine Kinder sehr begierig darauf sind, alles zu lernen. Sie eignen sich rasch die Sprache an, einschließlich des entsprechenden Dialekts, die Moden, und – besonders wichtig – sie verinnerlichen die Werte der Gemeinschaft. Wenn sie erst einmal verstanden haben, wie die Dinge laufen, entwickeln sie eine starke Tendenz, das für richtig und Abweichungen für falsch zu halten. Niemand tanzt gerne aus der Reihe. Wir erinnern uns alle: Zu den wirklichen Dramen der Kindheit gehört es, ausgeschlossen zu werden.
Das Konformitätsbedürfnis, unser unbedingter Wille dazuzugehören, das ist eindeutig erste Natur und weit davon entfernt, eine rationale Strategie der dritten Natur zu sein. Wie erstmals vom Sozialpsychologen Solomon Asch gezeigt, wollen Menschen sich zuweilen sogar so sehr anpassen, dass sie bereit sind, Annahmen des gesunden Menschenverstandes aufzugeben, ohne dass sie sich dessen hinreichend bewusst wären.
Diese Tendenz erklärt, warum Menschen anfangen, Dinge zu glauben, von denen sie eigentlich wissen, dass sie unsinnig sind, wie zum Beispiel, dass die Erde flach ist oder es eine satanistische Weltverschwörung gibt, die Kinder tötet, um aus ihnen ein Verjüngungsserum zu gewinnen. Doch die Gruppe, der sie angehören möchten, hält diese nun mal für wahr. Was für einen Außenstehenden wie Heuchelei aussehen mag, ist in Wirklichkeit eine erfolgreiche, meist kaum bewusste Strategie, sich der Ingroup anzunähern: Kopiert man alles, vom Verhalten bis zu den Einstellungen, und verinnerlicht das, erntet man echte Akzeptanz. —
Bei den beschriebenen Mechanismen handelt es sich um jene, die unsere zweite Natur so dauerhaft werden lassen. Wir machen alles, um dazuzugehören. Und wir vermeiden jeden Verdacht, wir würden eigene abtrünnige Absichten verfolgen. Deshalb tun wir akribisch all das, was wir von Geburt an gelernt haben. Und das gelingt umso besser, umso mehr wir selbst überzeugt sind, dass dies die natürlichste Sache der Welt ist. Nur als vollständig integriertes Mitglied einer Gruppe war lange Zeit das Überleben möglich.
Das ist auch einer der Gründe, warum wir ein leidiges Faible für Entweder-oder-Kategorien haben, für das Schwarz-Weiß-Denken. Das reduziert nicht nur die unendliche Vielfalt der Welt auf einfache Ja-oder-nein-, Gut-oder-böse-Entscheidungen. Es entspringt auch dem Bewusstsein «Wir hier machen es richtig» – und alle Verstöße gegen unsere Normen sind verurteilens-, wenn nicht verdammenswert.
Doch die Welt hat sich gewandelt. Wir verbringen nicht mehr unsere komplette Existenz in derselben Gruppe, sondern in vielen verschiedenen. Da erweist sich die konservative zweite Natur als hinderlich. Wir erleben das am eigenen Leib: Wissen wir nicht genau, wie die Dinge laufen – in unbekannten Situationen, am neuen Arbeitsplatz, in fremden Ländern –, fühlen wir uns unwohl und erleben sozialen Stress. Wie stark das empfunden wird, ist entsprechend der Plastizität menschlichen Verhaltens sehr verschieden.
Typisch für den menschlichen Konformismus ist deshalb auch, dass wir beständig alle um uns herum beurteilen, inwieweit sie den vorherrschenden Normen entsprechen. In jedem von uns versieht ein kleiner Blockwart seinen Dienst: Wir registrieren sofort Auffälligkeiten und Abweichungen von der Norm. Oft genug müssen wir sie auch kommentieren. Dieser Steinzeit-Konformismus läuft selbst dann ab, wenn wir uns zwischen Tausenden von unbekannten Menschen in einer Großstadt bewegen. Obwohl es kurios ist – wir werden mit all diesen Leuten nie etwas zu tun haben! –, können wir kaum anders, als sie alle zu taxieren.
Auch die heute mitunter geführte Diskussion, ob es nicht latent «rassistisch» sei, Menschen, die anders aussehen als die «Durchschnittseuropäer» des letzten Jahrhunderts, zu fragen, wo sie herkommen, ist ein Beispiel dafür. Unsere erste Natur urteilt eben noch nach dem Steinzeitprinzip «anderes Aussehen = fremd = vorsichtig sein!». Deshalb braucht es unsere dritte Natur – und das heißt aktive Aufklärung –, die diesem Reflex begegnet und ins Gedächtnis ruft, dass in den globalisierten Gesellschaften von heute jemand, der «fremd» aussieht, uns kulturell viel näher stehen kann, als jemand, der uns äußerlich zu gleichen scheint. Umgekehrt erklärt sich so die Verletztheit vieler Betroffener, sie werden aufgrund banaler äußerlicher Merkmale ausgegrenzt. Da schlägt das uralte Alarmsystem an, weil sie Gefahr spüren, nicht in die soziale Gemeinschaft eingebunden zu sein.
Wie generell bei Mismatch-Phänomenen ist auch diesmal zu konstatieren: Sie liegen nicht in der Schuld der einzelnen Menschen im Sinne einer individuellen moralischen Verfehlung. Es handelt sich um Probleme, die aus einer evolutionären Logik heraus auftreten (und deshalb meist Übergangsphänomene sind). Sobald wir das durchschauen, sollte es leichter fallen, sie aus dem Weg zu räumen oder Gegenstrategien zu entwickeln, als wenn wir uns in moralisch aufgeladenen Anklagen verlieren. —
Der einst sinnvolle hartnäckige Konformismus erweist sich im modernen Alltag als Belastung. Am deutlichsten zeigt sich das in Migrationsgesellschaften: Einwanderer kommen in der Regel nicht mehr als einzelne Individuen, die alles daransetzen, sich in die bestehende Gesellschaft zu integrieren. Längst existieren eigene Communities innerhalb der Mehrheitsgesellschaften. Es herrscht Konformismus-Konfusion. Anpassen an die neue Kultur oder der alten treu bleiben? Loyalitätskonflikte allerorten sind die Folge. Nach welchen Werten sollen die Menschen leben? Nach denen ihrer Vorfahren, mit denen sie aufgewachsen sind, oder nach denen der neuen Gemeinschaft? Für Kinder sind die Herausforderungen besonders groß, vermitteln doch das soziale Umfeld und das Elternhaus teils widersprüchliche Werte, die nur schwer in eine zweite Natur zu integrieren sind. Tatsächlich besitzen sie zuweilen etwas wie eine doppelte zweite Natur. Einmal mehr: Die menschliche Plastizität ist enorm.
Integration und Desintegration, Aus- und Abgrenzung: Die Gefahr ist gegeben, dass hier – von allen Seiten – essenzielle, das heißt wesensmäßige Gegensätze konstruiert werden. Dabei sind es allein kulturelle Kollisionen, die fast zwangsläufig die Identitätskonflikte unserer Tage hervorbringen. Und zwar, weil die Psychologie aller Beteiligten nun mal in der Steinzeit hängen geblieben ist und wir in Nibelungentreue zu einmal verinnerlichten Werten stehen. Deshalb dürstet etwas in uns nach klaren Identitäten. Die aber gibt es nur noch im Plural.
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wir haben es im Fall unserer konformistischen Ader mit einem der Hauptschuldigen in Sachen Kulturblindheit zu tun. Unsere erste Natur nimmt übereifrig an, dass die Dinge schon so zu sein haben, wie wir sie vorfinden. Was also normal im Sinne von üblich ist, wird auch als das Regelhafte, Vorschriftsmäßige, Erstrebenswerte erachtet. Die Normalität wird als Norm gesetzt. Alles, was ihr nicht entspricht, gilt als Abweichung, wird reflexartig disqualifiziert, abgelehnt. Der Staatsrechtler Georg Jellinek schuf dafür bereits im Jahr 1900 den Begriff der «normativen Kraft des Faktischen». Psychologen sprechen heute vom «Status-quo-Bias»: Wir bevorzugen intuitiv den aktuellen Zustand vor jeglicher Veränderung.
Allein dort, wo die Normalität zu sehr gegen Prinzipien der ersten Natur verstößt, regt sich Zweifel, ob das alles so sein soll. Unsere konformistische Natur adelt also stets den jeweiligen Status quo, mag der auch ungewöhnlich sein. In einer sich kaum verändernden Welt war das sinnvoll. In heutigen Gesellschaften, die nicht nur durch raschen Wandel, sondern auch durch Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verschiedenster Art belastet sind, ist solcher Konservatismus bedenklich.
Tatsächlich sind die Zusammenhänge hochpolitisch: Der Soziologe Pierre Bourdieu wunderte sich schon immer über das Paradox, «dass die Weltordnung, so wie sie ist, mit ihren Einbahnstraßen und Durchfahrtverboten, im eigentlichen wie im übertragenen Sinn, ihren Verpflichtungen und Sanktionen grosso modo respektiert wird und dass es nicht zu mehr Zuwiderhandlungen oder Subversionen, Delikten und ‹Verrücktheiten› kommt». Bourdieu weiter: «Oder dass sich, was noch erstaunlicher ist, die bestehende Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen, ihren Rechten und Bevorzugungen, ihren Privilegien und Ungerechtigkeiten, von einigen historischen Zufällen abgesehen, letzten Endes mit solcher Mühelosigkeit erhält und dass die unerträglichsten Lebensbedingungen so häufig als akzeptabel und sogar natürlich erscheinen können.» Kurz: Warum wird diese zutiefst sonderbare Welt als normal aufgefasst?
Bourdieu macht dafür die «symbolische Gewalt» verantwortlich, «jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt», welche die Menschen dazu zwingt, die herrschende Ordnung anzuerkennen. Diese ginge auf unterschiedliche Weise von den Mächtigen aus. Eine der Hauptquellen der symbolischen Gewalt ist das, was wir Religion von oben nennen. Wir werden uns ihrer noch annehmen.
Unsere evolutionäre Aufklärung rückt indes einen weiteren, wesentlichen Aspekt in den Fokus: Wir müssen nicht gezwungen werden. In den Menschen selbst existiert als biologisches Erbe die konservative Tendenz, die «bestehende Ordnung» anzuerkennen. Deshalb haben sich Menschen nicht nur von fremder Herrschaft zu emanzipieren. Sie müssen sich auch aus den Fängen ihrer eigenen ersten Natur befreien.
Kapitel 11 Die dunkle Seite
Unsere Gruppenpsychologie ist janusköpfig, sie hat naturgemäß zwei Seiten. Jene nach innen gerichtete haben wir inspiziert. Es ist das freundliche, wenn auch übertrieben konformistische Gesicht. Der nach außen gerichteten Seite sind wir ebenfalls bereits begegnet: dem skeptischen Gesicht mit seinem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Nichtgruppenmitgliedern. Wir müssen uns jedoch seiner genauer annehmen, entgleiten ihm doch immer wieder die Züge. Dann wird es zu einer hässlichen Fratze. Das Freund-Feind-Denken ist eine der unangenehmsten und gefährlichsten Eigenarten der ersten Natur. —
Auch wenn wir auf dem besten Weg waren, die netten Affen zu werden, sind Aggression und Gewalt bei uns stets latent unter der Oberfläche vorhanden. Hin und wieder kommt es zu explosiven Ausbrüchen. Das teilen wir mit unserer äffischen Verwandtschaft. Aggression ist bei allen Primaten ein hervorstechendes Merkmal ihrer Gesellschaften und gemeinsam mit Gewalt Ausdruck von Konkurrenz. Sie soll helfen, andere von einer knappen Ressource auszuschließen. Primaten konkurrieren um den Zugang zu Nahrung (die Weibchen im Durchschnitt mehr als die Männchen) oder um den Zugang zu Partnern (die Männchen im Durchschnitt mehr als die Weibchen). Bei Menschen indes entfielen durch den gemeinsamen Nahrungserwerb und die Paarbindungen einige dieser Konkurrenzsituationen. Die Aufteilung der Beute oder die Gelegenheit eines Partnerwechsels bargen jedoch immer noch genügend Konfliktpotenzial.
Umso kooperativer unsere Vorfahren wurden, desto besser bekamen sie ihre impulsiven Emotionen in den Griff. Die Allianzen zwischen Individuen konnten nur mit einem gehörigen Maß sozialer Toleranz funktionieren. Man möchte keinen Verbündeten verlieren und gerät deshalb nicht gleich in Rage, falls jemand über die Stränge schlägt. Aggressionsausbrüche sind deshalb nicht gerade reputationsfördernd. Entsprechend sehen wir bei mobilen Jägern und Sammlern kaum Aggressionen innerhalb von Gruppen oder zwischen Gruppen des gleichen Netzwerks. Selbst Kinder spielen dort nicht gewalttätig oder üben sich in Dominanzverhalten.
Jäger und Sammler hassen es, dominiert zu werden, und wehren sich aktiv gegen potenzielle Bullies, die sich aufspielen. Sie verfügen über ein ganzes Arsenal an Strategien. Hohn und Spott kommen zuerst. Helfen diese nicht, einen Möchtegern-Alpha zu disziplinieren, folgen Ausgrenzung oder auch Gewalt. Im Extremfall greifen sie zu Waffen. Als einzige Art unter den Tieren können wir, der kulturellen Evolution sei Dank, effektiv auf Distanz töten. Seither kann ein David jeden Goliath erledigen, insbesondere wenn David sich mit seinesgleichen verbündet.
Anders als das klassische Alphamännchen in der Primatenverwandtschaft kann kein noch so starker Mensch jederzeit wachsam sein und sich gegen Überfälle aus der Entfernung oder einem Hinterhalt verteidigen. Zu den positiven Gründen, freundlich zu sein, kommt also noch dieser dunkle hinzu: Wer sich zu despotisch gerierte, lebte gefährlich.
Das führte dazu, dass die natürliche Selektion unseren aggressiven Wettbewerbstrieb tief in uns verborgen hat, um ihn nur in seltenen Fällen von der Kette zu lassen. Angesichts geringer Bevölkerungsdichten und fehlender Vorräte mangelte es zudem an existenziellen Konfliktstoffen. Auch stand immer die Option offen, einem eskalierenden Streit aus dem Weg zu gehen. Man war nicht an Hof und Acker gebunden. —
Die Geschichte lehrt uns aber, dass wir das menschliche Gewaltpotenzial nicht unterschätzen sollten. Sobald sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern, zeigt sich, dass unsere erste Natur weniger friedliebend ist, als es nach dem bisher Gesagten den Anschein haben mag. Begutachten wir zunächst die Dispositionen für das Freund-Feind-Denken, um dann nachzuvollziehen, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist.
Beginnen wir mit einem Verhaltensmuster, das uns gleich als die Affen entlarvt, die wir nun einmal sind: Primaten, die in geschlossenen Gruppen leben, unterscheiden klar zwischen den Angehörigen der eigenen, der Binnengruppe, und denen, die außerhalb stehen. Letzteren verhalten sie sich feindselig gegenüber, insbesondere wenn diese versuchen, in die Gruppe einzudringen. Die Aufrechterhaltung einer bestimmten Gruppengröße und die Vorteile des Zusammenlebens mit bekannten Individuen, die vertrauenswürdig sind oder deren Verhalten zumindest vorhersehbar ist, sind wichtige Gründe für stabile Verhältnisse. Entsprechend werden Fremde gemieden oder sogar angegriffen. Zumal unter Primaten zwischen einzelnen Gruppen Rivalitäten bestehen, die gewaltsam verlaufen können.
Wir haben im letzten Kapitel jene Strategien kennengelernt, mit denen es einzelnen Individuen dennoch gelingen kann, sich in fremde Gruppen zu integrieren. Ist das geglückt, verhalten sich die Migranten so, als wären sie schon seit Jahren selbstverständliche Mitglieder der Gruppe. Das bedeutet auch: Sie treten neuen migrationswilligen Primaten gegenüber genauso feindselig auf, wie das die Alteingesessenen tun. Sie zeigen eine starke Loyalität gegenüber ihrer neuen Binnengruppe – und legen keine Anzeichen von Solidarität mit jenen an den Tag, die das gleiche Schicksal erleben wie sie. Konformismus ist ein überaus mächtiger Mechanismus.
Wie leicht und unbemerkt diese uralten Verhaltensdispositionen noch bei modernen Menschen anspringen, dafür hat Hans Magnus Enzensberger ein eindrückliches Beispiel geliefert: Zwei nicht miteinander bekannte Personen sitzen in einem Zugabteil und haben es sich bequem gemacht. Als an der nächsten Station zwei Passagiere dazukommen, regt sich bei den ursprünglichen Fahrgästen ein «deutlicher Widerwille». Nur zögerlich räumen sie ihre Sachen von den freien Plätzen. Auch wenn sie sich vorher gar nicht kannten, verhalten sie sich dabei «eigentümlich solidarisch». Die neuen sind für sie «Eindringlinge». Am nächsten Bahnhof fragen zwei weitere Passagiere, ob noch Platz im Abteil sei. «Von diesem Augenblick an verändert sich der Status der zuvor Eingetretenen: Eben noch waren sie Eindringlinge, Außenseiter, jetzt haben sie sich mit einem Mal in Eingeborene verwandelt», schreibt Enzensberger. «Sie gehören zum Clan der Sesshaften, der Abteilbesitzer, und nehmen alle Privilegien für sich in Anspruch, von denen jene glauben, dass sie ihnen zustünden.» Erstaunlich sei vor allem das «Fehlen jeder Empathie mit den Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen, dieselbe schwierige Initiation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mussten; eigentümlich die rasche Vergesslichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt und verleugnet wird.» Wir sind immer noch die alten Affen. —
Sehen wir uns weitere Dispositionen an, die uns – oder besser gesagt: den anderen – das Leben schwer machen. Zunächst: Es liegt in der Logik der Gruppenpsychologie, die eigene Gruppe für die beste aller möglichen zu halten. Das resultiert aus unserem Konformismus – und geht unumgänglich mit einer latenten Abwertung der anderen einher, die sich ja anders verhalten als die Wir-Gruppe. Die Ethnografie kennt unzählige Beispiele von Ethnien, die sich selbst «Menschen» oder «echte Menschen» nennen und alle übrigen mit einer Bezeichnung belegen, die diesen ein Quantum weniger oder gar kein Menschsein beimisst. Entsprechend ist auch die Tendenz zur Ausgrenzung, zum Othering, erste Natur. Einmal mehr fehlt ein guter deutscher Begriff. Gemeint ist das Konstruieren eines anderen als Fremdem, von dem das Wir sich abgrenzt und dem man sich überlegen fühlt.
Eine weitere Schattenseite unserer sozialen Ader: Wir waren so sehr auf die Zugehörigkeit zu einer eng verbundenen Gruppe von bedingungslos Kooperierenden angewiesen, dass der Erfolg des Kollektivs den Schlüssel zum Erfolg der Einzelnen darstellte. Nahmen wir als Gruppe eine existenzielle Bedrohung wahr, vergaßen wir unsere aktuellen Streitigkeiten, schlossen die Reihen und standen Schulter an Schulter, um gemeinsam der Gefahr zu trotzen. Einzelne Mitglieder einer fremden Gruppe konnten unser Vertrauen gewinnen, aber sobald sie als Horde kamen und wir sie als Bedrohung für Leib und Leben wahrnahmen, waren wir schnell bereit, sie allein deshalb zu töten, weil sie der anderen Gruppe angehörten, ganz gleich, wie nett und kooperativ sie als Einzelne zu uns gewesen sein mögen.
Auch das ist eine Erblast der Natur: Schon von Schimpansen ist bekannt, dass sie in Auseinandersetzungen mit anderen Schimpansengruppen so weit gehen, dass sie diese auf eine so brutale Weise umbringen, als seien sie Beute, die es zu zerfleischen gilt. Auch der Homo sapiens ist im Konfliktfall erstaunlich schnell damit, Gegner zu entmenschlichen und alle Tötungshemmungen aufzugeben, die normalerweise gegenüber Vertretern der eigenen Art bestehen.
Nun spielten diese Faktoren die längste Zeit unserer Evolution nur in Ausnahmesituationen eine Rolle. Seit dem Neolithikum jedoch, der Zeit, in der Menschen zunehmend in Gesellschaften leben, in denen die ursprünglichen engen zwischenmenschlichen Gruppenbeziehungen verloren gingen, gewinnt die dunkle Seite unserer Gruppenpsychologie an Macht.
Da ist allein schon das Bevölkerungswachstum bei den frühen Bauern: Land, Wasser und andere Ressourcen sind nicht beliebig vermehrbar. Konkurrenz war vorprogrammiert. Nur allzu schnell eskalierte das gewaltvoll. Schließlich ging es ums Überleben. Das Weiterziehen war keine Option mehr. «Die Forschung ist sich einig», sagt der Archäologe Harald Meller. «Krieg im eigentlichen Sinn ist eine Innovation des Neolithikums – und keine Konstante des Menschseins.» Krieg wird dabei definiert als geplante und organisierte bewaffnete Auseinandersetzung zwischen autonomen Gruppen, die ein solches Maß an Legitimation besitzt, dass das Töten anderer Menschen nicht als Mord gilt. Die Ursachen liegen, so Meller, in der «neuen produzierenden Wirtschaftsweise und der damit verbundenen Vorratshaltung, der Akkumulation von Werten, den steigenden Bevölkerungszahlen, den festen Siedlungsplätzen, verbunden mit Landbesitz und Besitzgrenzen, sowie der zunehmend stärkeren Hierarchisierung».
Die Stunde männerdominierter Clans hatte geschlagen, mit ihren Warlords und Despoten an der Spitze. Ein toxisch maskuliner Kult des Krieges etablierte sich. Es ist eine der sonderbaren Volten der Evolution, die eindrücklich belegt, dass zumindest der moralische Fortschritt nicht ihr Ziel ist: Was zu Jäger-Sammler-Zeiten «noch ein ausgemustertes Rollenmodell aus tiefster Primatenvergangenheit war, zeigt sich unter gewandelten Lebensbedingungen als zukunftsweisend», haben wir an anderer Stelle geschrieben. «Die Dominanten, die machtgierigen Alphas erhalten eine zweite Chance; ihr Hang zum rücksichtslosen Gewalteinsatz erweist sich als Adaptionsvorteil. Die Gruppen, die sie in Schach hielten, existieren nicht mehr. Jene vom Stamme Kain, das erzählt die Bibel, erweisen sich als äußerst talentiert darin, Besitz, Frauen und Gewalt zu monopolisieren. Sie sind die Keimzelle für Tyrannei und Despotie. Das sollte für die längste Zeit das Erfolgsmodell sein.» Kriege werden zum Signum der zivilisierten Welt. Dort kann sich die dunkle Seite unserer Freund-Feind-Psychologie auf brutalste Weise austoben. —
Ein integraler Bestandteil jeder Kriegsführung ist es, ein möglichst überzeugendes, also abstoßendes Feindbild zu entwerfen. Herrscher, Populisten, Demagogen verstehen diese Klaviatur virtuos zu spielen. Dem Gegner werden die niedrigsten Motive und finstersten Absichten unterstellt. Spricht man Feinden das Menschsein ab (oder ein «Untermenschentum» zu), fällt es erstaunlich leicht, ihnen das Menschsein auch physisch zu nehmen.
Die Verteufelung der Gegner zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Das stärkte den Zusammenhalt. Der Schulterschluss fällt umso intensiver aus, umso größer die äußere Bedrohung. Sie dient als Rechtfertigung und erleichtert das Töten. Man war im Kampf gegen das Böse unterwegs. Auch das macht das leicht zu aktivierende binäre Freund-Feind-Denken so attraktiv. Die komplexe Welt wird auf einen simplen Gegensatz reduziert: Wir die Guten, dort die Bösen. Das gewann durch die Geschichte hinweg immer wieder eine schreckliche, oft tödliche Realität. Auch das christliche Abendland sah seine Mission darin, überall die Bösen, nämlich die «Kinder des Satans», die «Heiden» und «Teufelsanbeter» zu bekämpfen.
In anonymen Gesellschaften ist solches Freund-Feind-Denken einfach zu etablieren. Es fehlt der direkte Kontakt zwischen gesellschaftlichen Gruppen, der die Vorurteile widerlegen und zu Annäherung und Austausch führen könnte. Es muss gar nicht immer zu Kriegen ausarten; in modernen Gesellschaften ist das allerorten zu beobachten. Und selbst ein Shitstorm auf Twitter funktioniert nach diesem Prinzip. «Unsere moralisch aufgeladene Gruppenpsychologie macht uns empfänglich für soziale Spaltung», schreibt der Philosoph Hanno Sauer.
Aber da ist noch mehr am Werk: Es handelt sich um einen fatalen Kompensationsmechanismus für den in anonymen Gesellschaften grassierenden sozialen Horror Vacui. Indem man ein Außen, einen Feind konstruiert, wird eine Anzahl an sich verbindungsloser Menschen überhaupt erst als Gemeinschaft definiert. Das ist die bittere Logik des Freund-Feind-Denkens: Die Abgrenzung nach außen schweißt nach innen zusammen. Tatsächlich jedoch entstehen so kaum mehr als Pseudogemeinschaften. Ihnen fehlt der positive Inhalt.
Besonders gut funktioniert dieser Mechanismus, wenn sich Gesellschaften bedroht fühlen oder in der Krise stecken. Das dann erwachte Schutzbedürfnis führt zur Wagenburgmentalität und zum Abgrenzen gegen andere. Auch die Kunst, ein ordentliches Bedrohungsszenario zu entwerfen, gehört zur Grundausbildung aller Demagogen und Populisten. —
Halten wir fest: Die adaptive Vorsicht gegenüber Fremden, die in der ersten Natur verankert ist und zuweilen von der zweiten Natur zementiert wird, kann leicht instrumentalisiert werden, um egoistische oder chauvinistische Ziele zu verfolgen. Wir können Regeln der Solidarität für andere ausschalten, sobald diese aus ideologischen oder ökonomischen Gründen als Bedrohung wahrgenommen und als primitiv oder böse, also weniger menschlich ausgegeben werden. Dann springt die Psychologie des Konflikts an: der Schulterschluss in Zeiten äußerer Bedrohung. Was die Zusammenhänge brisant macht: Es ist ausgerechnet das kühle Kalkül der dritten Natur, jene von Vertretern der Kritischen Theorie so benannte instrumentelle Vernunft, die diesen Mechanismen eine schreckliche, wenn nicht tödliche Dynamik verleihen kann. Das Unterdrücken des urmenschlichen Impulses, Empathie zu empfinden, geschah in der Geschichte nur allzu oft aus angeblich vernünftigen Gründen. Menschen sind nämlich auch schrecklich pragmatisch. Alles eine Frage der Moral. Und damit wären wir beim nächsten Kapitel.
Teil 7 Die vierte Natur
Kapitel 23 Zurück zur Ersten Natur: Demokratie vollenden
Viele von uns haben in der Schule gelernt, dass es die Griechen gewesen seien, die im Athen der Antike die Demokratie erfanden. Und dass deren Wiederentdeckung in Humanismus und Renaissance die Welle der demokratischen Revolutionen der Neuzeit auslöste, deren Produkt unsere moderne Welt ist. Das klingt, als hätten die klassischen Philosophen eine großartige Idee gehabt: ein Mann (wohlgemerkt nicht eine Frau, nicht ein Sklave, nicht ein Fremder), eine Stimme. Und als sei das eine Idee gewesen, auf die zuvor noch nie jemand gekommen war. Das machte die Demokratie zur triumphalen Errungenschaft der Zivilisation.
Nur weil etwas oft wiederholt wird, ist es noch lange nicht wahr. Sowohl die Athener als auch die Denker der Neuzeit gruben da lediglich eine uralte Idee aus, die mindestens so alt ist wie die Menschheit. Die Gemeinschaften der mobilen Jäger und Sammler waren egalitär und demokratisch. Die Vorliebe für Gleichberechtigung und Fairness liegt buchstäblich in unseren Genen.
Diese zentrale Erkenntnis der evolutionären Aufklärung verändert alles. Denn damit haben wir es nicht mit einem Fortschritt zu tun. Es handelt sich um eine Rückkehr zu alten Verhältnissen – wenn auch auf neuem Niveau. Die erste Natur der Menschen feiert ein Comeback, sie emanzipiert sich aus den Unterdrückungszusammenhängen der letzten 5000 Jahre und verlangt nach ihrem Recht.
Tatsächlich zeigt der Verlauf der Geschichte eine generelle Tendenz, die sich über die vergangenen Jahrhunderte verfolgen lässt: Herrschaftsstrukturen erodieren, immer mehr Menschen partizipieren an den Entscheidungsprozessen. In vielen Lebensbereichen ist eine Renaissance von Jäger-und-Sammler-Prinzipien zu erleben. Wenigstens für die westliche Welt gilt: Die Emanzipation der Frauen und damit die Rückkehr zur alten Gleichberechtigung ist dafür ebenso ein Beispiel wie Anpassungen der Arbeitswelt an die menschlichen Bedürfnisse. Der Kampf gegen ausbeuterische Arbeitspraktiken war erfolgreich. Auch die Sklaverei ist abgeschafft und der Kolonialismus an ein Ende gekommen. Und die Welt ist deutlich demokratischer geworden. Keine Frage, das alles ist noch längst nicht perfekt, Rückschläge sind zu beobachten, und zuweilen scheint sogar der Verdacht gerechtfertigt, dass sich nur subtilere Formen von Herrschaft und Ausbeutung etablieren. Trotzdem ist dieser fundamentale Prozess nicht zu leugnen.
Für die Letzten, die noch an der Existenz der menschlichen Natur zweifeln: Wir haben es mit einem eindrucksvollen Beleg ihrer Macht zu tun. Wäre die im 20. Jahrhundert dominierende Überzeugung korrekt, dass Menschen allein durch Kultur geprägt sind, ließe sich die politische Emanzipation nach 5000 Jahren Unterdrückung nicht erklären. Wir alle wären demütige Untertanen, nirgends ein kleines Gefühl der Empörung.
…
Wie gezeigt, führt das Freund-Feind-Denken (der Ersten Natur) in empfundenen Krisenzeiten zu einem Schulterschluss und einer Wagenburg-Mentalität sowie zur Bereitschaft, den als Feinden Identifizierten das Menschsein abzusprechen. Es geht auch mit der Bereitschaft einher, sich «Führern» zu unterwerfen. Zugleich wird dem «System», der Demokratie, die dafür verantwortlich sei, der Kampf angesagt. Entsprechend lautet das altbekannte Propagandakonzept der Rechtspopulisten einmal mehr: Starke Männer sind die Rettung (die heute durchaus auch einmal weiblich sein dürfen). Damit wird der Bock zum Gärtner gemacht und der Despotie zur Wiedergeburt verholfen.
Wir sehen, wie die erste Natur der Menschen, ihre Empörung über gesellschaftliche Unfairness, ausgebeutet und gegen sie selbst verwendet wird, weil letztlich neue Unterdrückungsformen und Gewaltszenarien die Konsequenz wären, in denen Menschen, das sollte mittlerweile klar sein, erst recht nicht glücklich werden. Auch sonst werden hier urtümliche Erste-Natur-Reaktionen instrumentalisiert: HADD und die Freund-Feind-Psychologie.
Dass die Demokratie auf die Anklagebank gerät, liegt an einem typischen Fall von Kulturblindheit: Es wird übersehen, dass das Problem der fehlenden Fairness nicht die Demokratie an sich ist. Es ist allein die unvollständige Demokratisierung! Es braucht mehr Demokratie, nicht weniger. Das Ziel muss die Vollendung der Demokratie auch in Sachen Chancengleichheit sein und damit die Reduzierung massiver sozialer Ungleichheit, nicht die Abschaffung der Demokratie. Für uns ist das ein Paradebeispiel, wie unverzichtbar evolutionäre Aufklärung ist. —
Die fundamentalste und fundierteste Analyse der real existierenden Ungleichheit hat Thomas Piketty vorgelegt. Der französische Ökonom konstatiert, dass eine «langfristige historische Tendenz zu mehr sozialer, ökonomischer und politischer Gleichheit» existiere, wenn auch «Ungleichheiten in erheblichem und ungerechtfertigtem Maße» fortbestehen. Da Pikettys Betrachtungszeitraum kaum mehr als die letzten 200 Jahre umfasst, deutet er diese Entwicklung als einen «Kampf um Gleichheit», der aus einer «Reihe folgenreicher Aufstände, Revolutionen und Mobilisierungen» bestand. Dieser Kampf, das ist Pikettys Überzeugung, werde sich im 21. Jahrhundert fortsetzen.
Einmal mehr zeigt sich, wie wichtig die evolutionäre Ausweitung der Perspektive ist. Sie erst verdeutlicht, dass wir es in Sachen Fortschritt in Richtung Gleichheit mit keiner gesellschaftlichen Innovation zu tun haben, der als solcher immer ein Maß Beliebigkeit innewohnen würde. Wir haben es auch hier mit einer Rückkehr zum Normalzustand des Homo sapiens zu tun, mit demselben Prozess, den wir bereits in den Bereichen Religion, Geschlechter, Kinder und Arbeit diagnostizierten. Das erhöht aus unserer Perspektive die Chancen, dass sich Gleichheit leichter auf einem Weg der politischen Einsicht durchsetzt. Und es eben keine weiteren «Aufstände, Revolutionen und Mobilisierungen» benötigt. Denn dann wird für alle einsichtig, dass die Ungleichheit eine historische Fehlentwicklung wie die Sklaverei oder Frauendiskriminierung war, die es endlich zu korrigieren gilt. Die ungleiche Vermögensaufteilung verliert damit jegliche Legitimation.
Man geht also nicht fehl, zu behaupten, dass der uns immer wieder beschäftigende Ausnahmezustand im Zeichen der Herrschaft eine plumpe, dafür äußerst brachiale Ausgestaltung der Ungleichheit war. Die aktuellen Verhältnisse gehen dagegen bedeutend subtiler zu Werk: Nach außen hin erscheinen sie demokratisch, lassen aber dem Besitz freies Spiel. Ein Spiel, das weiterhin vor allem von Männern gespielt wird, die unter diesen zu ihren Gunsten veränderten Spielregeln ihren aus dem Bateman-Prinzip gespeisten Motivationen freien Lauf lassen – ohne Gefahr, wie früher angefeindet zu werden. Insofern kann vollständige Demokratisierung nur erfolgen, wenn die Ungleichheit generierenden Faktoren eingeschränkt werden.
Wir befinden uns alle in der Patrix, in jenem Gesellschaftsspiel, in dem sich in den letzten fünftausend Jahren die Spielregeln massiv zuungunsten der meisten Menschen (und des Planeten) verschlechtert haben. Höchste Zeit, die unfairen Regeln zu korrigieren. Wie bei allen Rechten sollte auch in Sachen Eigentum gelten, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit der anderen beschnitten wird und die Kosten für Gesellschaft und Umwelt zu groß werden. Und das tut der Reichtum durch Ressourcenübernutzung, einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck, Verminderung der Bildungschancen der anderen, politische Einflussnahme und manches mehr. Wir müssen uns vor uns selbst beschützen: Wir verfügen in materiellen Angelegenheiten nun mal über kein Sättigungsgefühl, es braucht kulturelle Schranken.
Auf der Basis der evolutionären Aufklärung werden Konflikte à la Piketty überflüssig. Denn dann kann, so zumindest unsere Hoffnung, wahrlich demokratisch aus Einsicht gehandelt werden, um eine menschengerechte Gesellschaft zu schaffen, in der alle gleiche Chancen haben, unabhängig vom finanziellen, sozialen und kulturellen Kapital ihrer Eltern. Auch wenn noch manche antiquierten Zweite-Natur-Prägungen dagegen protestieren, befinden diese sich doch auf verlorenem Posten. Solche Fairness leuchtet nicht nur unserer ersten Natur sofort ein, es ist auch für unsere dritte Natur die einzig akzeptable Position: Jeder Mensch muss die gleichen Chancen haben. Alles andere ist indiskutabel – und evolutionär betrachtet unmenschlich.
Das bedeutet keinesfalls, alle gleichzumachen. Menschen sind verschieden, auch bei Jägern und Sammlern haben wir gesehen, dass es Unterschiede in der Reputation und damit in der Stellung in den Gruppen gab. Gerade die Motivation, sich auszuzeichnen, ist heute unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften – und das kann und darf sich auch in materiellem Erfolg niederschlagen. Ohnehin wäre es naiv – und totalitär – zu glauben, dass sich das verhindern ließe. Wohl aber liegt es im Interesse aller, zu große Ungleichheit einzuschränken und vor allem sicherzustellen, dass jeder einzelne Mensch, der ins Spiel des Lebens eintritt, eine realistische Chance erhält, seinen eigenen Weg zu gehen. —
Es handelt sich hier nicht um politische Befindlichkeiten, sondern um wissenschaftlich beschreibbare Zusammenhänge, deren Berücksichtigung für die Entscheidungsfindung unverzichtbar sein sollte. Gesellschaften sind nun mal formbar. Wie bei Tieren haben sich menschliche Gesellschaften in aller Regel auf der Grundlage der gewachsenen Präferenzen und strategischen Entscheidungen der Individuen einer Population organisiert. Soziale Einheiten entstanden spontan, von unten nach oben. Die hier beschriebenen Entwicklungen im vom Eigentum geprägten Zeitalter hatten etwas Unvermeidliches.
Wenn wir es den Individuen überlassen, ihren Interessen zu folgen, was in der Regel bedeutet, dass sie sich um sich selbst und ihre Verwandten kümmern, dann werden die Gesellschaften die grundlegenden Möglichkeiten der Wohlstandsakkumulation widerspiegeln, welche die Subsistenz bietet. Unkontrollierte Prozesse, wie Unterdrückung innerhalb der Gesellschaften und Kriege zwischen ihnen, schaffen große Ungleichheiten bei Einkommen, Wohlstand und Gesundheit.
Dass dieses Potenzial für unbegrenzte Ungleichheit unantastbar in der menschlichen Freiheit begründet liegen soll, ist ein Mythos – in die Welt gesetzt worden von jenen, die davon profitieren. Unsere Art, der Homo sapiens, machte Karriere durch die Entdeckung des Wir. Wir wurden zur erfolgreichsten Spezies, weil unsere Vorfahren es vor Abertausenden Jahren lernten, das alte Primatenerbe, den Hang zum Alpha- und Bullytum, zu unterdrücken und den Egoismus so weit zu sublimieren, dass Individuen ihren kompetitiven Drang zur Besonderheit in den Dienst der Gruppe stellten. Die größte Reputation verdankte sich dem Einsatz für alle. Es kann nicht oft genug betont werden: Teilen machte reich.
Das können wir aus der Evolution für die Zukunft lernen: Wir dürfen es nicht zulassen, dass die beschriebenen spontanen Prozesse ihren Lauf nehmen und die Vielen unter den Wenigen leiden. Es sei denn, dass wir in einer Welt leben wollen, in der wir ehrfürchtig zuschauen dürfen, wie die Superreichen sich mit ihren Superjachten, Weltraumabenteuern und gekauften Fußballclubs zu übertrumpfen versuchen und per Hyperkonsum den Planeten ruinieren, während wir schon ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir im Supermarkt für unser Gemüse ausnahmsweise einmal einen Plastikbeutel benutzen.
Wir müssen den in die Irre führenden Freiheitsmythos korrigieren. Unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren waren frei in dem Sinne, dass sie keine Herrschaft über sich duldeten und sich vor niemandem verbeugen mussten. Das sollte unser Ziel sein. Sie waren aber nicht frei in dem Sinne, dass jeder Einzelne tun konnte, was er oder sie wollte, ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit. So wie das heute der gerade in den USA zelebrierte «Rugged Individualism» und das «I did it my way» beanspruchen. Diese Art von Freiheit, die das Individuum isoliert über alles stellt, ist eine Erfindung des Kapitalismus und die Grundvoraussetzung der grenzenlosen Bereicherung. Zu diesem kapitalistischen Narrativ gehört die stete Betonung der individuellen Rechte, die mit einer Zurückweisung von Pflichten gegenüber der Gesellschaft einhergeht. Viel zu lange berief man sich dabei auf das angeblich in der Evolution begründete Recht des Stärkeren. Doch da würden unsere hypersozialen Vorfahren aus dem Staunen nicht herauskommen. Das Wissen, dass niemand allein überleben kann, war die Grundessenz ihrer Existenz.
Weder Privatbesitz noch Ungleichheit sind in absehbarer Zeit aus der Welt zu schaffen. Demokratische Gesellschaften können jedoch die Ungleichheit durch eine progressive Besteuerung von Einkommen, Kapital und Erbschaften – alles Produkte des Patriarchats – begrenzen, ohne in eine lähmende zentralisierte Planung zu verfallen, die uns in den Jäger-und-Sammler-Gesellschaften von Angesicht zu Angesicht gute Dienste geleistet hat, für die die Welt aber längst viel zu komplex geworden ist. Und niemand schreibt den demokratischen Gesellschaften vor, sich international agierenden Konzernen, Oligarchen und freien Finanzströmen auszuliefern, die jene globalen Ungerechtigkeiten befördern, gegen die unsere erste Natur aufbegehrt. Solange demokratische Gesellschaften die Ungleichheiten zulassen, die überdies mit der Ausbeutung und Übernutzung weltweiter Ressourcen und der globalen Belastung des Klimas und der Umwelt einhergehen, machen sie sich angreifbar. Solche Ungerechtigkeiten liefern die Munition für die Populisten der Welt wie auch für den fundamentalistischen Terrorismus, der die westlichen Demokratien als eine Form des Neokolonialismus dämonisiert. Wer die Demokratie verteidigen möchte, muss sich zuallererst für ihre Gerechtigkeit und Fairness einsetzen. Das leuchtet selbst unserer ersten Natur ein. Die muss nur verstehen, dass unsere Gruppe heute alle umfasst und die Parole des Tages lautet: Wir sind #TeamWorld!
Epilog: Wie Mensch sein?
Wir haben das Ende unserer evolutionären Expedition durch die Jahrhunderttausende erreicht. Angetrieben hat uns der Wunsch, einen elementaren Beitrag zu leisten, um die Aufklärung zu vollenden. Dafür versuchten wir jene Wissenslücken zu schließen, die bisher verhinderten, Klarheit über uns selbst, unsere aktuelle Existenz und die zukünftigen Möglichkeiten des Menschseins zu erlangen.
Wir haben eine Menge erfahren. Da waren erstaunliche Charakteristiken der menschlichen Natur dabei wie unsere prismatische Persönlichkeit oder die Schizosexualität. Allein sie genügen, zu begreifen, warum es zuweilen so kompliziert ist, Mensch zu sein. Doch der eigentliche Ursprung unseres Gefühls, mit dem Leben stimme etwas nicht, ist ein anderer: Wir leben tatsächlich in einer außergewöhnlichen Situation, für die uns die Evolution nicht vorbereitet hat.
Die Besichtigung der tiefen menschlichen Vergangenheit hat aber auch mehr positive Eigenschaften ans Tageslicht geholt, als viele erwartet haben dürften. Menschen sind lange nicht so schlecht, wie von alters her behauptet wird. Anders als der Fortschrittsmythos uns weismachen wollte, müssen wir uns für unsere Anfänge nicht schämen. Sie waren weder primitiv noch brutal oder barbarisch.
Tatsächlich sind wir hochsoziale Wesen, empathisch, hilfsbereit und lieben es, mit anderen zu teilen und gemeinsam Herausforderungen anzugehen. Wir sind Meister der Kooperation. Wir wollen respektiert, wenn nicht sogar geliebt werden. Dafür spielen wir schon mal den Helden; das Urteil der anderen ist uns wichtig. Wir hassen Ungleichheit und Despoten, und das Konzept der Gleichberechtigung leuchtet uns ein. Nicht zuletzt sind wir kreativ, wenn wir es sein müssen, und kinderliebend. Das alles ist genetisch veranlagt und damit Teil der ersten Natur des Homo sapiens und universell verbreitet. Darauf sollte sich aufbauen lassen, wenn es darum geht, für menschenwürdigere Verhältnisse zu sorgen. Wir bringen das meiste bereits mit; man muss uns das nicht aufzwingen. Wir sind eben keine Sünder.
Heilige aber auch nicht. Menschen besitzen eine Reihe problematischer bis unangenehmer Charakterzüge. Wir haben eine eigensüchtige Ader und einen Hang zur Doppelmoral. Wir unterscheiden allzu leicht zwischen Wir und Ihr, Freund und Feind. Wir sehen überall Akteure am Werk, auch wenn es keine gibt, und erklären uns so, zumindest intuitiv, die Welt. Wir verschwören uns, sobald wir eine Bedrohung spüren, und verlieren dann leicht jegliche Beherrschung.
Doch in 99 Prozent der menschlichen Evolution sorgten diese Eigenschaften nicht für sonderliche Schwierigkeiten. Dank sozialer Kontrolle und der nicht existenten Option, Hab und Gut anzuhäufen, hatten die Menschen ihre dunkle Seite weitgehend im Griff. Unter ungünstigen Bedingungen indes, wie in Krisenzeiten oder bei veränderten gesellschaftlichen Spielregeln, kann das bedenkliche, zuweilen toxische Potenzial der menschlichen Natur eine unerfreuliche Dynamik entfalten.
Und damit sind wir beim Kern unseres Problems. Wir dürfen uns von all den technischen Wundern und kulturellen Errungenschaften der modernen Welt nicht blenden lassen: Wir leben permanent unter ungünstigen Bedingungen. Für unsere erste Natur herrscht ständig Krise. Die Welt befindet sich in jenem Ausnahmezustand, der von Dominanz und Ausbeutung, Herrschaft, Ungleichheit und ökologischen Krisen bestimmt wird. Die wiederholt thematisierte Plastizität menschlichen Verhaltens lässt uns halbwegs klarkommen in dieser bizarren Welt. Auch wenn stets der Splitter im Verstand schmerzt.
Doch wir haben Glück: Die letzten 12000 Jahre, in denen die Hemmungslosigkeit immer mehr Fahrt aufgenommen hat, stellen in der evolutionären Perspektive nur eine Verirrung dar. Besser noch, es handelt sich um ein Intermezzo, dessen Ende wir derzeit erleben. Ohne dass es den meisten bewusst ist, sind wir Zeugen eines Umbruchs menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Von Anfang an rebellierte unsere erste Natur gegen die Eskapaden jener, die andere Menschen unterjochen. Bereits im ältesten überlieferten Epos der Menschheitsgeschichte, der Geschichte des Königs von Uruk, Gilgamesch, beschweren sich die Frauen bei der Göttin Ischtar über die ebenso despotischen wie ausbeuterischen Praktiken des Herrschers. Heute, mehr als 4000 Jahre später, zeigt der Protest auf ganzer Breite Erfolg. Herrschaftsstrukturen sind ermüdet, ihre Legitimation weggebrochen. Diesen Erfolg konnten die Menschen allein deshalb erzielen, weil sie keine reinen Kulturwesen sind. Wären sie das, lebten wir längst glücklich und zufrieden ein von Kadavergehorsam geprägtes Untertanendasein.
In allen Bereichen sind, zumindest in der westlichen Welt, erfolgreiche Emanzipationsprozesse zu konstatieren: Menschen haben sich aus Sklaverei und anderen Unterdrückungszusammenhängen befreit und Frauen die Gleichberechtigung erkämpft. Wir lassen uns nicht mehr von Göttern vorschreiben, was wir zu glauben, wie wir zu leben und wen wir zu lieben haben. Wir verweigern uns undemokratischen Herrschaftsformen. Nur aus den Fängen des Eigentums haben wir uns noch nicht gänzlich herauswinden können.
Hier liefert die evolutionäre Aufklärung eine Einsicht höchster Wichtigkeit: All diese Emanzipationsbewegungen sind keine isolierten Einzelphänomene. Das ist alles ein und dieselbe Welle. Einmal Ungleichheit und zurück! Wo die Emanzipation also bisher nicht vollständig erfolgte, wie wir das an den Beispielen Arbeitswelt oder auch Demokratisierung beobachteten, hinken diese Gesellschaftsbereiche den tatsächlichen Entwicklungen hinterher.
Es handelt sich nicht um Fortschrittsphänomene, also nicht um die Erfolge einer linearen, rationalen Entwicklung aus dunklen Anfängen heraus, wie das so gerne unter dem Stichwort «Modernisierung» vom kapitalistischen Westen für sich beansprucht wurde. Das war nur eine Ideologie, um die eigenen Positionen zu legitimieren und sich über den Rest der Welt, unsere Vorfahren inklusive, zu erheben. Die evolutionäre Perspektive verdeutlicht dagegen: Wir sehen allerorten eine Rückkehr zu jenen Prinzipien des Zusammenlebens, die unserer ersten Natur entsprechen und sich deshalb richtig anfühlen. Es ist das eigentliche Menschsein, zu dem alles derzeit zurückdrängt. Und das dürfen wir in diesem Fall begrüßen, korrespondiert das doch mit dem Geist der Menschenrechte und der Demokratie, der jedem Individuum gleiche Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten zugesteht. Wir können die Kraft unserer ersten Natur nicht hoch genug einschätzen. Es wäre eine Farce, sie weiter zu leugnen.
Die frohe Botschaft der evolutionären Aufklärung lautet also: Freiheitliche Verhältnisse entsprechen uns, das ist der universelle Kern des Menschseins. Sie müssen nicht mit Zwang eingebläut werden; Menschen sind schlicht vom Zwang zu befreien. Dank der auf vielen Wissenschaften basierenden evolutionären Erkenntnisse dürfen wir endlich dem Splitter im Verstand vertrauen und haben damit die Chance, die letzten Schleier der Maya zu lüften und die Aufklärung zu vollenden. —
Doch das Projekt, die Gesellschaft wieder menschentauglicher zu gestalten, ist kein Selbstläufer. Die Lage ist heikel, sie steht auf Messers Schneide. Wir haben immer wieder den Wildwuchs diagnostiziert, der typisch für das Ende des Ausnahmezustands ist. Überall, wo die alten Regulierungen wegbrechen, ist ein Aufblühen verschiedenster Lebensentwürfe zu beobachten. Es wird herumexperimentiert, Neues erprobt, wir sind dem in Bereichen wie Liebe, Sexualität, Familie, Spiritualität, Arbeit oder politischer Partizipation begegnet. Ähnliches gilt für den Umgang mit Ressourcen (Abschied von fossilen Energieträgern) oder Nahrungsmitteln (Umbau von industrieller zu ökologischer und nachhaltiger Landwirtschaft).
Doch diesen Wildwuchs gilt es so zu kultivieren, dass es zu keinen neuen Fehlentwicklungen kommt. Es ist ja nicht so, dass sich automatisch alles zum Guten wendet. Zwar verschwinden Herrschaftsstrukturen und patriarchale Matrix, doch wir erhalten nicht die alte Umwelt zurück, als deren perfekte Anpassung sich unsere erste Natur geformt hat. Es gibt keine Rückkehr in die kleinen Gruppen umherziehender Jäger und Sammler. Mismatch ist und bleibt unser Schicksal.
Deshalb stehen wir vor einer Herausforderung, deren Ausmaß bisher nicht einmal in Ansätzen realisiert wurde: Wir müssen unsere Umwelten und Lebenspraktiken so formen, dass sie auf der einen Seite besonders gut mit unserer ersten Natur harmonieren. Auf der anderen Seite sind sie aber so zu gestalten, dass die dunklen Seiten unserer ersten Natur nicht getriggert werden. Wir haben gezeigt, dass für die Ressentiments jener, die den Populisten folgen, Erste-Natur-Reaktionen verantwortlich sind. Und auch das Bateman-Prinzip ist ein Merkmal der männlichen ersten Natur. Wenn ihm keine gesellschaftlichen Schranken gesetzt werden, entfaltet es eine fatale Dynamik. Die erste Natur ist ja nicht per se lobenswert. Auch unsere Freund-Feind-Psychologie ist hyperaktiv. Wir müssen uns dahingehend korrigieren, dass wir unsere Empathie nicht allein auf das eigene kleine Umfeld konzentrieren. Das ist ein Dritte-Natur-Job. Wo wir bei gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch die erste Natur auf unserer Seite haben, fällt es bedeutend leichter, das Ziel zu erreichen.
Ebenso müssen wir dem Umstand ins Auge blicken, dass wir unsere aktuelle menschengemachte Umwelt nicht austauschen können. Wir haben Praktiken, Regeln, Gesetze und Institutionen aller Art geerbt, und zwar als kulturell gewachsene Produkte und damit geronnene Geschichte. Christopher Ryan nannte das unseren selbst fabrizierten Zoo. Der Ausnahmezustand lebt darin in mal mehr, mal minder stark konservierter Form fort. Damit werden die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Zukunft eingehegt, oft genug massiv beschränkt.
Allein in der evolutionären Perspektive sind entsprechende Altlasten verlässlich zu identifizieren und Entscheidungen zu treffen, wo Korrekturen bei laufendem Betrieb vorzunehmen sind. Und zwar auf Basis der demokratischen Grundprinzipien, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar und es ein Gebot der Fairness ist, allen die gleichen Startbedingungen wie auch die Teilhabe an demokratischen Prozessen zu gewährleisten. Und als neue moralische Herausforderung ist hinzuzufügen, dass wir Verantwortung für den gesamten Planeten über die Gegenwart hinaus tragen. —
Die Aufgaben klingen so gewaltig – da drängt sich der Gedanke auf, ob nicht der Evolution ein R voranzusetzen sei, um all die Verkrustungen zu beseitigen. Doch das Gute an der Geschichte ist, dass man aus ihr lernen kann. Nämlich wie man es nicht macht: (R)Evolution ist kein taugliches Rezept. Das hat die Vergangenheit überaus eindrucksvoll (und noch leidvoller) demonstriert. Lösungen können nicht von oben verordnet, sie können nicht einmal von oben konstruiert werden. Das ist das Denken der alten herrschaftsbasierten Welt.
So funktioniert auch die kulturelle Evolution nicht. Erinnern wir uns: Menschliche Kreativität ist kumulativ. Ausgehend von einem Problem, einer Krise kommt es zu ersten Lösungsversuchen. Doch unsere planerische Vernunft ist nie so gut, dass ihr im ersten Anlauf der große Wurf gelingt. Also wird weiter probiert, getüftelt, herumgebastelt, ergänzt und erweitert, gemeinsam diskutiert, gestritten und gefeiert, wenn es endlich halbwegs zufriedenstellend funktioniert. Viele versuchen ihr Glück. Hier ist Konkurrenz nützlich. Es geht also darum, innovative Prozesse zu initiieren, die umso produktiver sind, desto offener sie gestaltet werden, desto freier die Diskussionen sind, desto mehr Menschen daran rumwerkeln. Und dafür braucht es gesellschaftliche Freiräume, institutionelle Rahmen, Anreize. Kreativität ist ein Prozess und harte Arbeit, kaum je ein Geniestreich.
Aus diesem Grund hat die evolutionäre Aufklärung auch keine neuen, evolutionsbasierten Zehn Gebote zu verkünden. Ebenso wenig haben wir als Autoren konkrete Lösungen im Angebot. Das liegt jenseits unserer Kompetenz, da brauchte es mehr und klügere Köpfe. Wohl aber möchte dieses Buch den Wettstreit der Ideen, das gute alte Palaver entfachen, bietet sich doch die einmalige Chance, die Fehler der Aufklärung zu beheben. Erstmals verfügen wir über das nötige Wissen und dürfen mit vollem Recht von uns verlangen, den Mut zu haben, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Dieses Leben ist nicht normal – und wir sind in der Lage, das zu ändern. Und zwar auf eine Weise, wie das Menschen die längste Zeit getan haben: gemeinsam durch Überzeugung und nicht gewaltsam von oben herab.
Wir versprachen, zumindest einen Kompass zu liefern. Den verdanken wir der ersten Natur. Nicht weil sie immer im Recht wäre, sondern weil Lösungen, die sich an ihr orientieren, den Vorteil haben, dass sie von allen Menschen als selbstverständlich empfunden und mitgetragen werden – zumindest wenn die Widerstände alter Zweite-Natur-Prägungen überwunden sind. Deshalb formulieren wir zum Abschluss eine Reihe von Prinzipien, die als Navigationshilfe dienen können. Maximen, um den menschengemachten Zoo, in dem wir nun mal alle leben, menschenwürdiger zu gestalten. Keine Zehn Gebote also, lediglich die evolutionären Zwölf. Nichts zum Gehorchen, wohl aber zum Debattieren und Weiterdenken.
Prinzip 1: Lasst uns wieder sozial reich werden
Wir sind hypersoziale Wesen, Kooperation ist für uns alles. Ohne reale und tragfähige persönliche Beziehungen sind wir nichts. Schlimmer noch, wir leiden an den sozialen Defiziten und versuchen, das materiell zu kompensieren. Einsamkeit ist eine der größten Bedrohungen der Gegenwart. Wir müssen in stabile und vertrauensvolle Beziehungen zu Menschen investieren. Übernehmen wir Verantwortung für andere, werden sie es auch tun. Das gibt uns nicht nur das Gefühl der Geborgenheit, das spendet Glück. Und es verhindert, dass uns die sozialen Defizite weiter in den Hyperkonsum treiben. Es ist eines der wichtigsten Rezepte, dem Fluch des Materiellen zu entgehen und unseren Planeten doch noch zu retten. Die Investition in zwischenmenschliche Beziehungen ist die beste Klimaschutzmaßnahme.
Prinzip 2: Investiert ins reale Leben
Nichts gegen die Digitalisierung. Was wären wir ohne sie. Aber sie droht uns und unser Leben aufzufressen. Die Zeit, die wir auf Bildschirme starren, ist Zeit, die wir nicht selbst gelebt haben. Unsere erste Natur kann nur etwas anfangen mit Menschen aus Fleisch und Blut, mit Dingen, die wir berühren können, und mit allen Sinnen erfahrbaren Erlebnissen. Alles andere sind für sie Ersatzstoffe. Das muss uns nicht gefallen, lässt sich aber nicht ändern: Unsere erste Natur hängt nun mal in der Steinzeit fest. Dafür müssen wir Verständnis haben. Das Konkrete, Analoge und Lebendige macht sie glücklich – und darum uns auch.
Prinzip 3: Es braucht neue Lagerfeuer
Nichts läge uns ferner als ein neuer Kollektivismus. Individualismus und Anonymität sind das Signum unserer Zeit. Doch mittlerweile haben sie solche Ausmaße erreicht, dass wir ihnen etwas entgegensetzen müssen. Es benötigt dringend institutionalisierte Austausch- und Begegnungsorte, um der zunehmenden Isolierung und dem Abstrakt- und Digitalwerden zwischenmenschlicher Beziehungen zu begegnen. Die alten Lagerfeuer brennen nicht mehr. Salons, Vereine und Parteien, aber auch Kirchen, Museen oder Theater sind als Begegnungsorte in die Jahre gekommen und standen ohnehin nie allen offen. Es braucht neue Räume, Orte, Etiketten, die Menschen miteinander in unmittelbare Gespräche und konkrete Interaktionen bringen. Und diese dürfen nicht kommerziell sein, sondern müssen öffentlich finanziert sein. Wir brauchen reale Netzwerke, um unserer sozialen Natur freien Lauf zu lassen und der viel zitierten Kaltherzigkeit der modernen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.
Prinzip 4: Es lebe die Vielfalt
In den steinzeitlichen Gruppen fanden ums Lagerfeuer alle zusammen, erst so entstand Gemeinschaft. So vielfältig heute die Gesellschaften sind, müssen wir für Durchmischung und Integration sorgen – und zwar sozial, kulturell, intergenerationell, ethnisch. Und dafür die institutionellen Rahmenbedingungen und finanziellen Grundlagen schaffen. Nur so lässt sich verhindern, dass es zu Grabenkämpfen der zweiten Naturen kommt. Allein dadurch kann das Othering, das Konstruieren, Ausgrenzen und Anfeinden von anderen in Zaum gehalten werden. Wir haben gesehen, wie viel Konfliktpotenzial hier lauert. Umso besser Menschen einander kennen, desto mehr schwindet es. Der persönliche Kontakt und das direkte Gespräch sind die vertrauensbildenden Maßnahmen schlechthin. Wir mögen unterschiedliche zweite Naturen haben, die universelle erste Natur teilen wir alle. Und auf deren Sinn für Fairness können wir uns einigen.
Prinzip 5: Lasst alle Verantwortung tragen
Bevor der Ausnahmezustand die Welt veränderte, haben Menschen Entscheidungen gemeinsam getroffen, basisdemokratisch. Es ging stets um ihre Angelegenheiten, das war das gelebte Wir. Insofern sollten wir die Partizipation aller massiv ausbauen, und zwar von der Nachbarschaft bis hin zur höchsten politischen Ebene. Menschen müssen erleben, dass sie die eigene Welt gestalten und kontrollieren können und nicht nur anonymen Entscheidungen von oben ausgeliefert sind. Das verhindert Ohnmachtsgefühle und die daraus resultierenden Ressentiments. Es stärkt zudem das Immunsystem gegen Anfälle von Populismus. Menschen müssen Verantwortung spüren und erkennen, es ist ihre Sache, um die es da geht. Dann folgen sie bedeutend leichter ihren Verpflichtungen und – was ebenso unabdingbar ist – den gesellschaftlichen Spielregeln. Umgekehrt bedeutet das auch, dass wir alle Verantwortung übernehmen und uns engagieren sowie Zivilcourage zeigen. Es ist an uns, den Verlust der Gruppen als demokratische Kontrollinstanzen zu kompensieren. Wir sollten uns persönlich für den menschenwürdigen Zustand unserer Lebenswelt einsetzen. Das impliziert, jene zu kritisieren, die diese Prinzipien mit Füßen treten. Manches ist in der Erprobung (Basisdemokratie, Bürgerräte, runde Tische, soziale Jahre etc.), doch es bleibt viel zu tun. Wir müssen wieder gemeinsame Sache machen.
Prinzip 6: Reduziert materielle Ungleichheit
Menschen akzeptieren ein gewisses Maß an Ungleichheit, wenn es in ihren Augen leistungsbasiert ist. Sobald die Ungleichheit in keiner Relation zur Leistung steht oder sich die Schere in Sachen Reichtum zu weit öffnet, regt sich der Protest der ersten Natur. Zu große Ungleichheit spaltet nicht nur die Gesellschaft und bedroht die Demokratie, sondern führt auch zu immer stärkerer Statuskonkurrenz mit einhergehendem Konsumwahn. Wir müssen das Überschießen des Eigentumsprinzips unterbinden – wenn es eine patriarchal kontaminierte Erfindung gab, dann ist es diese. Und überhaupt: Wenn wir sozial wieder reicher werden und damit unsere persönliche Reputation wächst, sinkt der unstillbare Hunger nach Materiellem und Status. Das kommt nicht nur uns allen zugute, weil es tatsächlich glücklich macht, sondern auch dem Klima und der Welt.
Prinzip 7: Schafft Chancengleichheit
Natürlich muss unsere Solidarität mit den Schwachen sein. Sie sind in den meisten Fällen die Opfer der skizzierten Ungerechtigkeitsprozesse. Und die Ungleichheit vererbt sich. Die soziale Position und die Herkunft der Eltern stellen noch immer den entscheidenden Faktor für den Erfolg der Kinder dar. Chancengleichheit ist deshalb kaum mehr als ein frommer Wunsch. Das ist unfair und weder für eine aufgeklärte Gesellschaft noch für unsere steinzeitbasierte erste Natur akzeptabel. Das Spiel des Lebens muss allen dieselben Chancen einräumen. Außerdem können wir es uns gar nicht erlauben, so viel Talent links liegen zu lassen. Zumal die Gefahr besteht, dass sich einige dann andere wenig gesellschaftsfreundliche Wege suchen, um sich das zu erkämpfen, was sie für ihr Recht halten.
Prinzip 8: Denkt Arbeit neu
Auch die derzeitige Organisation der Arbeit ist ein patriarchales Produkt. Höchste Zeit, sie neu zu denken. Insbesondere ist alle Arbeit zu entlohnen. Wir sollten das nicht dem von Profitstreben angetriebenen Markt überlassen. Es gilt, die richtigen Anreizstrukturen zu schaffen und Arbeit in erster Linie nach ihrem Nutzen für die Menschen, die Gesellschaft und die Umwelt zu honorieren. Das Ziel kann nicht sein, den Konsum zu erhöhen. Keine Bange, das hat nichts mit Verzichtüben zu tun, ist das Ziel der neuen Arbeit doch eine Steigerung der Lebensqualität. Und die basiert – keine Überraschung – auf sozialem Reichtum und einer gesunden Umwelt. Auch davon profitieren wir alle.
Prinzip 9: Emanzipiert die Liebe
Wir sind eine schizosexuelle Spezies. Unsere Flexibilität ermöglicht vieles, trotzdem treten Paarbeziehungen bei Weitem am häufigsten auf. Viel zu lange wurde die menschliche Sexualität reguliert und den Menschen vorgeschrieben, wie sie ihr Liebesleben zu organisieren haben. Dabei ist es allen selbst überlassen, nach ihrer Façon glücklich zu werden. Regeln und Gesetze braucht es allein dort, wo die Freiheit und Integrität anderer berührt werden und alte Diskriminierungen aus der Welt zu räumen sind. Verantwortungsvolle Bindungen verdienen Unterstützung. Menschen sollten nie wegen Beziehungsdingen in ökonomische Abhängigkeiten geraten. Die vornehmste Aufgabe ist zu gewährleisten, dass Kinder adäquat, sicher und unbeschwert aufwachsen.
Prinzip 10: Sorgt für Kinder
Kinder sind nicht nur die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, Kinder sind die Zukunft. Ihnen hat das besondere gesellschaftliche Interesse zu gelten. Ihre Sicherheit ist in jeder Hinsicht zu gewährleisten und die Betreuung auf viele Schultern zu verteilen. Dabei sind stabile und verantwortungsvolle Beziehungen entscheidend. Das entspricht der Praxis, wie Menschen seit Jahrhunderttausenden groß geworden sind. So kann gewährleistet werden, dass sie soziale und eigenverantwortliche Wesen werden, die sich in Gemeinschaften produktiv einbringen und Vertrauen in sich und andere setzen. Zudem entlastet das die Familien. Nicht zuletzt ist es eine gute Möglichkeit, soziale Ungleichheiten aufzufangen, Bildung bestmöglich zu gestalten und für weitgehende Chancengleichheit zu sorgen. So können Kinder zu selbstbewussten Mitgliedern der Gesellschaft werden, die ihrerseits Verantwortung übernehmen. Deshalb ist es sinnvoll, auch Jugendliche früh in die gesellschaftliche Partizipation einzubinden. Ihnen wird diese Welt am längsten gehören.
Prinzip 11: Befreit den Glauben
Unsere erste Natur hat den Hang, überall Akteure zu wittern, selbst solche, die nicht zu sehen sind. Die Religion wird also nicht verschwinden. Wollen die offiziellen Religionen indes eine Zukunft haben, müssen sie sich von allem patriarchalen und despotischen Ballast befreien und aufhören, Religionen von oben zu sein. Sie haben kein Recht, Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben oder was sie zu glauben haben. Sie sollten sich auf das besinnen, was ihre besten Vertreter schon immer waren: Anwälte der Menschen zu sein, insbesondere der Armen und Schwachen. Die Kirchen haben ihre Ressourcen und Infrastruktur in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, Kommunikations- und Interaktionsräume fürs Menschsein zu bieten und Gemeinschaft zu zelebrieren. Was wäre ansonsten ihre Daseinsberechtigung? Und selbstverständlich sind Menschen frei, auch an rein gar nichts zu glauben.
Prinzip 12: Schafft Spielwiesen für Konkurrenz
Unsere anthropologische Bestandsaufnahme hat gezeigt, wie wichtig Menschen ihr Ruf, ihre Reputation ist. Sie sehnen sich nach Anerkennung und haben deshalb ein Faible für Konkurrenz und Wettbewerb, um sich vor anderen auszuzeichnen. Da müssen wir dem alten Affen in uns sogar einmal Zucker geben, damit er sich keine falschen Betätigungsfelder sucht. Schaffen wir uns neue gesellschaftliche Räume, auf denen wir den Drang, uns auszuzeichnen, mit ganzer Leidenschaft ausleben dürfen. Wir sollten deshalb den Sport aus den Fängen des großen Geldes befreien. Und warum nicht das derzeit aussterbende Vereinswesen, das einst der ganzen Fülle menschlicher Tätigkeiten Raum gab, entstauben und auf eine neue Ebene heben? Vor allem sollten wir Konkurrenzen schaffen, die wie in den alten Zeiten im Dienst und zum Besten der Gemeinschaft stehen. Denn dann gewinnen wir alle. Wir brauchen Arenen und Foren, in denen wir uns im direkten Austausch mit den besten Ideen, wunderbarsten Geschichten oder größten Visionen messen können. —
Keine von unseren zwölf Maximen sollte nach der Lektüre des Buchs überraschen. Manches mag naiv und weltfremd klingen. Aus heutiger Perspektive zumindest. Die ist aber nun einmal scheuklappenbewehrt. Und der Wachstums- und Eigentumsfixierung der Marktwirtschaft ist vieles des hier Dargestellten ein Graus und erscheint im gewohnten Rahmen schlicht nicht zu realisieren. Doch der gewohnte Rahmen ist ja gerade zu überwinden, weil er evolutionär betrachtet eine Fehlentwicklung darstellt.
Das ist die eigentliche Leistung der evolutionären Aufklärung: Sie bringt die letzten ideologischen Stützen der alten herrschaftsbasierten Gesellschaftsordnung zum Einsturz. Allen Formen massiver sozialer Ungleichheit fehlt fortan die Legitimation. Sie sind weder gott- noch naturgegeben. Sie können sich auch nicht auf die Evolution oder die Tradition berufen. Es handelt sich schlicht um Produkte eines kolossalen menschlichen Irrwegs. Wie gut, dass wir nun einen Kompass besitzen, der uns auf altbewährte Wege zurückführen kann.
Nun lässt sich die Aufklärung endlich vollenden und ausrufen: «Sapere aude!» Wir müssen den Mut haben, uns unbeschwert auszumalen, wie wir leben möchten – und zwar befreit von aller normativen Kraft des Faktischen. Ein «Weiter so» kann und darf es nicht geben. Es würde die Welt nur noch ungerechter machen und sie endgültig zugrunde richten. Und wozu überhaupt? Die aktuellen Verhältnisse machen die Menschen nicht einmal halbwegs glücklich (nicht einmal die Reichen). Längst wird vielerorts auf eine Weise kommuniziert, als seien wir auf bestem Weg, zu einer pavianartigen Spezies zu werden. So viel zum Thema zivilisatorischer Fortschritt.
Wir lassen unsere eigentlichen Stärken verkümmern: Kooperation und Kommunikation – und das bedeutet, auch streitend zueinanderfinden. Es lebe das Palaver! Wir sind überzeugt, dass unsere evolutionären zwölf Maximen kein Patentrezept sind, dass sie aber wohl helfen, Menschen im ursprünglichen Sinn reicher, zufriedener und glücklicher zu machen. Und dass sie uns dazu bringen, dass wir stolz sein dürfen, zu einer ebenso spannenden wie spektakulären Art wie dem Homo sapiens, den einsichtigen Menschen, zu gehören.
«Homo homini lupus», der Philosoph Thomas Hobbes, dem wir oft genug begegnet sind, hat den Satz, der Mensch sei des Menschen Wolf, berühmt und berüchtigt gemacht. Ironischerweise hat Hobbes diese Sentenz aus einer Komödie des römischen Dichters Plautus übernommen und sie in seinem Sinn umgebogen und entstellt. Bitte verzeihen Sie das Latein, aber im Original heißt es: «Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.» Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf und kein Mensch. Und dann kommt bei Plautus die entscheidende Präzisierung: Zumindest solange man den Menschen nicht kennt.
Jetzt aber kennen wir den Menschen und wissen, was evolutionär korrekt ist. Einst waren wir dem Menschen ein Mensch. Und das sollten wir in Zukunft wieder sein.
Kommentar schreiben