Aus: Die zerrissene Gesellschaft
Claudia Nierth, Roman Huber, 2023
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KAPITEL 1: Der Zerfall des Zusammenhalts
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Mehr politische Bildung und alles wird gut?
Wir müssen die Menschen nur genügend bilden, dann wird alles gut?
In jeder Rede des Bundespräsidenten, in allen Schulbüchern, von allen Zentralen für politische Bildung wird darauf hingewiesen, dass wir unsere größten politischen Auseinandersetzungen, die schlimmsten politischen Verwirrungen lösen können durch mehr politische Bildung, durch wissenschaftlich fundierte und gut aufbereitete Information und einen rationalen Dialog darüber. Stimmt das wirklich? Müssten alle nur besser informiert sein, und die Gesellschaft wäre weniger gespalten und einiger?
Immer wieder hören wir, dass das, woran der öffentliche Diskurs heute leide, nur auf Missverständnissen beruhen würde, auf Fehlinformation und Ungebildetheit. Das »falsche« Denken über den Krieg, die Pandemie, den Klimawandel, könne kuriert werden, wenn die Bürger:innen besser informiert und gebildeter wären. Dem liegt die Einschätzung zugrunde, dass es auf alle wesentlichen Fragen unseres täglichen Lebens »richtige« Antworten gäbe. Sowie dass die meisten Menschen nur durch zu wenig oder falsche Information verführt seien und dass noch so viel Bildung nicht vor absurden Meinungen schützt. Wir glauben nur mittlerweile, dass diese Theorie zu kurz greift und wir Unsummen von Geldern aufgrund einer falschen Annahme für politische Bildung ausgeben. Unsere Erfahrung ist, dass Bildung kein Schutz vor Dummheit ist und umgekehrt gebildete Menschen kein Garant für Klugheit sind. Gebildete Menschen wissen zwar mehr, treffen deswegen aber noch lange nicht »bessere« Entscheidungen oder wählen die »Guten«. Auch sind klügere Menschen nicht weniger in die Zerrissenheit der Gesellschaft involviert. In allen politischen Lagern finden sich heute Hochgebildete. Wäre es so einfach, dass alle nur ausreichend gebildet und »richtig« informiert sein müssten, um gesellschaftliche Spaltungen zu verhindern, könnten wir unsere Geschicke einfach Expert:innen überlassen.
Schauen wir uns im nächsten Kapitel also einmal genauer an, warum auch die klügsten politischen Entscheider:innen nicht immer richtigliegen.
KAPITEL 2: Politische Macht der Emotionen
»Das älteste und stärkste Gefühl der Menschheit ist die Angst, und die älteste und stärkste Art der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.« Howard Phillips Lovecraft, US-amerikanischer Schriftsteller
Es ist im Politischen nicht üblich, die Zusammenhänge von Rationalität und Emotionen, von Gedanken und Gefühlen zu berücksichtigen. Und wenn doch, dann gehen wir von einer Behinderung der Ratio durch Emotionen aus und versuchen diese von der Rationalität abzuspalten. Uns Autor:innen kommt es darauf an zu beobachten, inwieweit Emotionen auf unser Handeln Einfluss nehmen. Und dabei unterscheiden wir zwischen Emotionen, die unser Handeln unbewusst beeinflussen, und einem bewussten (Mit-)Fühlen, das unser Denken qualitativ bereichert. Wir unterscheiden »negativ« emotional motivierte Handlungen und »positiv« emotional motivierte Handlungen. Was wir heute in der Politik brauchen, ist die Kenntnis von beiden. Und wir müssen unsere Gefühle nicht von den Gedanken abspalten oder fernhalten, sondern sie bewusst miteinbeziehen.
Verhalten sich die Klügsten am dümmsten?
Die Auffassung, dass die Klügeren die besseren Entscheidungen treffen, ist weit verbreitet. Schon Plato forderte, Philosophenkönige sollten die Regentschaft übernehmen. Wollen wir die Klugheit der Klügsten wirklich anzweifeln?
Ja, wollen wir: Auch wenn wir das folgende Experiment erst gar nicht glauben konnten. Der Jura- und Psychologieprofessor Dan Kahan von der Yale University ging 2013 zusammen mit seinem Team der Frage nach, warum verlässliche, wissenschaftlich belegbare Daten nicht stärker zur Lösung politischer Probleme beitragen. Warum kann zum Beispiel die überwältigende Zahl an Beweisen dafür, dass der Klimawandel existiert, mit immenser Geschwindigkeit voranschreitet und unumkehrbar wird, nicht mehr skeptische Menschen davon überzeugen? Denn in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Meeresforschung oder der Krebsforschung werden die Ergebnisse ja auch nicht angezweifelt.
Warum fließen wissenschaftliche Erkenntnisse so wenig in unsere politischen Entscheidungen ein? Dies ist für die Zukunft der Menschheit eine entscheidende Frage. Welche Einflüsse bestimmen unser Handeln, wenn nicht nur die reinen Fakten?
Das Forschungsteam von Dan Kahan legte in einer Studie 1000 Amerikaner:innen einen Standardtest vor, um deren mathematische Kompetenzen einzuschätzen. In einem weiteren Test wurden ihre politischen Positionen eingeordnet. Dann bekamen alle Teilnehmenden die eigentliche Testaufgabe: eine Rechenaufgabe. Im Zusammenhang mit den Wirkungen einer Hautcreme sollte etwas berechnet werden. Erwartungsgemäß lösten die Teilnehmenden die Aufgabe umso korrekter, je besser sie in Mathematik waren. In der nächsten Stufe des Experiments wurde denselben Teilnehmenden eine politisierte Variante der gleichen Mathematikaufgabe gestellt. Diesmal sollten sie nicht die harmlose Wirkung einer Hautcreme berechnen, sondern die Auswirkungen des Mitführens von verdeckten Waffen auf die Kriminalitätsrate. In den USA ein hochbrisantes Thema. Wie gesagt, die Struktur der Rechenaufgabe war die gleiche wie bei der Hautcreme. Doch was kam diesmal heraus? Das Ergebnis ist verblüffend.
Wenn die Aufgabenstellung von den Studienleiter:innen so konzipiert war, dass ein gesetzliches Waffenverbot die Kriminalitätsrate senkte, schnitten die politisch Liberalen beim Test gut ab. Das Ergebnis entsprach ihrer politischen Position. Andersherum kam bei dem Ergebnis heraus, dass ein Waffenverbot erfolglos für die Senkung der Kriminalitätsrate sei, schnitten die Konservativen gut ab. Sie verrechneten sich weniger, während die Liberalen sich jetzt häufiger verrechneten. Das heißt, bei der Rechenaufgabe mit politisch-emotionalem Inhalt entschied nicht die mathematische Kompetenz über die Richtigkeit der Ergebnisse, sondern die politische Einstellung der Teilnehmenden. Es war sogar noch spannender. Je besser die Teilnehmenden in Mathematik waren, desto mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, die Rechenaufgabe falsch zu lösen, um das Ergebnis unbewusst der eigenen politischen Überzeugung anzupassen.
Eine bemerkenswerte Studie, ein bemerkenswertes Ergebnis. Das Fazit gibt uns wirklich zu denken. Menschen mit höheren Mathematikfähigkeiten nutzen diese nicht, um die Aufgabe korrekt zu lösen, sondern um die eigene politische Überzeugung herbeizurechnen. In diesem Versuch führte höhere Intelligenz nicht zu richtigeren Ergebnissen, wenn der Versuchsinhalt einen Kernbereich der eigenen politischen Überzeugung angriff. Ja, vielmehr führte diese höhere Fähigkeit dazu, den Prozess nach den eigenen Positionen zu beeinflussen. Je schlauer ein Mensch ist, umso mehr versucht er – unbewusst – emotionalisierende Prozesse zu manipulieren.
Vielleicht haben Sie, liebe Leser:innen, schon einmal die Ausführungen von eingefleischten Klimawandelskeptiker:innen gelesen und ahnen, worauf wir hinauswollen. Die Texte extremer Skeptiker:innen quellen über vor Zahlen, Tabellen und Studien etc. Alles sehr komplizierte und komplexe Materie, es bedarf schon einer gewissen Bildung und Wissens, um den Inhalten und Gedankengängen folgen zu können. Dennoch führen deren Rückschlüsse nicht notwendigerweise zu richtigen Ergebnissen wie zum Beispiel zu der Erhöhung globaler Erwärmung um mehrere Gradzahlen. Ein höherer Bildungsgrad und eine höhere Intelligenz führen nicht zwangsläufig zu richtigen Ergebnissen.
Apropos Klimawandel: Unsere Position zum Klimawandel orientiert sich an der geltenden Gesetzeslage in Deutschland. Der Deutsche Bundestag hat am 22. 09. 2016 die Unterzeichnung des Pariser Klimaschutzabkommens beschlossen. Mit diesem Beschluss, der einstimmig von allen im Bundestag vertretenen Parteien gefasst wurde, wird die von Menschen verursachte Klimaänderung und die daraus erfolgende weltweite Gefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen bestätigt. Deutschland hat sich vertraglich verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um die Erderwärmung deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu halten. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Beschluss vom 24. 03. 2021 anerkannt und festgestellt, dass der Staat zum Klimaschutz verpflichtet ist, auch mit Blick auf die künftigen Generationen.
Bei stark emotionalisierten Themen spielt die Rationalität eine geringere Rolle, und Menschen kommen systematisch zu falschen Ergebnissen. Bleibt nur die Frage, wann jemand emotionalisiert ist und wann nicht. Wann haben Sie das letzte Mal erregt um ein Thema gerungen und bewusst oder unbewusst alle fünf gerade sein lassen, um Ihre Argumente besser zu rechtfertigen?
Je klüger und informierter Menschen sind, desto mehr sind sie in der Lage, sich politische Fakten und Anschauungen so zurechtzulegen, dass sie ihren politischen Identitäten entsprechen. Politische Überzeugungen können Fakten und Vernunft k. o. schlagen. Diese Erfahrung kann den Glauben an die Demokratie durchaus erschüttern.8 Es sei denn, diese Erkenntnisse werden aktiv mit einbezogen und berücksichtigt.
Die meisten Menschen können sich von guten Fakten und Beweisen überzeugen lassen, wenn es sich um für sie harmlose, nicht emotionalisierte Themen geht. Darüber hinaus kennt die politische Psychologie eine ganze Reihe von sogenannten Verzerrungen. Also Kräfte, die uns in dem Prozess des Gewinnens von Erkenntnissen ablenken. Etwas mechanistisch gesprochen: Sie verfälschen das Ergebnis wie ein Fehler in der Rechenmaschine.
Bestätigungsfehler
Am bekanntesten dürfte der sogenannte »Bestätigungsfehler« (confirmation bias) sein. Also das Phänomen, dass wir Menschen jene Informationen herausfiltern, die am ehesten unsere Meinungen und Positionen bestärken, und jene, die sie infrage stellen, lehnen wir ab oder nehmen wir erst gar nicht auf. Oder das Phänomen, dass wir Expert:innen, die die eigene Meinung bestätigen, höher werten als jene, die der eigenen Meinung widersprechen. Beobachten Sie sich gerne selbst und schauen Sie, ob sich diese These bestätigt.
Das Verzwickte am Bestätigungsfehler ist, dass wir es trotzdem tun, auch wenn wir es wissen. Jede einzelne, auch der weiteren beschriebenen Verzerrungen ist bestens erforscht und durch Empirie bestätigt. Sie treffen auf alle Menschen zu. Auch wenn wir von uns glauben, dass es auf uns nicht zuträfe. Das ist im Übrigen die »Besser-als-der-Durchschnitt-Verzerrung«. Menschen sind meist davon überzeugt, Dinge besser zu beherrschen als andere. Wir fahren besser Auto als andere, fühlen uns schlauer als der Rest der Welt und spielen auf dem Sofa besser Fußball als jeder Profispieler. Im Zweifel wissen wir es besser. Natürlich wissen wir es auch besser als die Politiker:innen. Diese Haltung ist vertraut, oder?
Ein interessantes Selbsterforschungsfeld dazu war für uns der Beginn der Coronapandemie, die Monate von Februar bis zum Sommer 2020. Ein neues Phänomen kam auf uns und die Menschheit zu. Es konnte einem kaum egal sein, und es war komplex und gefährlich. Wir kannten weder das Virus, noch wussten wir genau, was eine Pandemie eigentlich ist und in der heutigen Zeit mit uns macht. Wir wussten nichts und waren unsicher, Bürger:innen, Journalist:innen, Politiker:innen, ja sogar die meisten Wissenschaftler:innen. Ein einmaliger gesellschaftlicher Lernvorgang begann. Aus diesem komplexen Prozess wollen wir jetzt nur herausgreifen, wie wir ganz persönlich dabei vorgegangen sind. Wie haben wir selbst uns eigentlich eine Meinung gebildet? Ab welchem Zeitpunkt wurden die Meinungen und Positionen gefestigt? Ab welchem Punkt entstanden dann schon »Meinungs-Lager«? Haben wir uns in diese Lager verortet? Und in welches? Und ab wann wurde es unangenehm, mit der jeweils »anderen Seite« zu sprechen? Auch wenn sich inzwischen vieles wieder entspannt hat, gibt es doch bis heute dazu eine beobachtbare Spaltung in der Gesellschaft. In unserem Umfeld war die ganze Bandbreite vorhanden, überspitzt formuliert, von »Wir müssen alles tun, was die Regierung uns sagt, sonst werden wir alle sterben« bis zu »Wenn wir das tun, was die Regierung uns sagt, werden wir alle sterben«. Die Gesellschaft zersplitterte vor unser aller Augen in nur wenigen Monaten.
Erinnern wir uns, wie heftig, aber zu Beginn auch erregend und intensiv dieser Meinungsbildungsprozess war. Vieles war noch nicht bekannt. Es gab verschiedene Pole: Wir müssen das Virus ausrotten (Zero Covid) – und auf der anderen Seite der Plan, Herdenimmunität zu erzielen, also das mehr oder weniger (un-)kontrollierte Durchseuchen der Gesellschaft. Es setzte sich dann »flatten the curve« durch. Also alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, um die Krankenhaus-Infrastrukturen nicht zu überlasten. Ungefähr bis Juli 2020 war der Debattenraum offen, doch in etwa ab den ersten großen Demonstrationen in Berlin entstanden zwei Lager. Seitdem hat nach unserer Beobachtung kaum einer mehr »sein« Lager innerhalb der Debatte verlassen, unabhängig davon, was zwischenzeitlich an neuen Fakten aufgetaucht ist. Bis heute sind natürlich beide Lager der Ansicht, recht zu haben und auf dem Boden der Wissenschaft zu stehen. Beide tun sich schwer damit, Fehler einzugestehen.
Uns Autor:innen hat vor allem fasziniert, wie stark der Bestätigungsfehler bei uns selbst gewirkt hat. Auch noch nachdem wir uns den Bestätigungsfehler bewusst gemacht haben. Wir konnten uns manchmal wie in Zeitlupe beobachten, wie wir eine uns missfallende neue Studie sofort akribisch zerlegt haben, den Autor auf Glaubwürdigkeit und Lagerzugehörigkeit untersucht haben. Wir konnten wahrnehmen, wie wir solche »unbequemen« Studien und ihre Aussagen weniger an uns heranließen und wegdrückten, emotional abwerteten, egal wie gut die Argumente waren. Umgekehrt das Gleiche. Wir übernahmen bestimmte Argumente viel leichter und wiederholten sie in Diskussionen. Und wir überprüften sie lange nicht so genau auf ihre Validität und Seriosität. Nach einiger Zeit mussten wir unsere Informationen nicht mehr selbst zusammensuchen, das haben Faktenchecker, Bloggerinnen und Portale von beiden Seiten für uns übernommen. Und irgendwann war es leicht, sich nur noch in Informationskanälen und Echokammern aufzuhalten, in denen wir die andere Seite gar nicht mehr seriös wahrgenommen haben. Wir lagen damit weit hinter unseren eigenen Ansprüchen an ausgewogener Information und Debatte. Zugegeben: Politisch nicht sonderlich reif! Aber so passiert. Seitdem fällt uns der Hang zur Selbstbestätigung fast überall auf.
In der Politik ist die Bestätigungstendenz in manchen Verfahren fast institutionalisiert, wie zum Beispiel bei Sachverständigenanhörungen im Bundestag zu bestimmten Gesetzesentwürfen. Jede Partei hat das Recht, Expert:innen einzuladen. Im Ergebnis werden jeweils nur Spezialisten aus dem eigenen Lager benannt, die in der Regel zu hundert Prozent die eigene Parteiposition bestätigen. Fragen werden auch nur den »eigenen« Expert:innen gestellt. Und den anderen wird oft nicht einmal zugehört. Auch wir wurden bereits viele Male eingeladen, zu Demokratiethemen Stellung zu nehmen. Der ritualisierte Ablauf und die offensichtliche Wirkungslosigkeit der einzelnen Beiträge sind meist frustrierend. Das Format lässt nur wenig Kreativität und Austausch zu, obwohl im Raum oft der geballte Sachverstand des ganzen Landes zum behandelten Thema anwesend ist. Im Grunde eine Verschwendung von Ressourcen. Ausnahmen bestätigen die Regel, auch die gibt es. Die Bestätigungstendenz hat übrigens nichts mit Intelligenz oder Bildung zu tun. Im Gegenteil, intelligentere Menschen haben sogar noch eine stärkere Tendenz zu Bestätigungsfehlern.9 Sie haben vermutlich mehr Möglichkeiten, ihre Argumente zu sortieren und überzeugend aufzubauen. Denn es ist wichtig und hilfreich, andere für sich einnehmen zu können, um einen höheren Status in der Gruppe zu erreichen. Dies dürfte evolutionär wichtiger gewesen sein als der Wahrheitsgehalt von bestimmten Zusammenhängen.
Die und Wir
Interessant zu beobachten war auch, dass es nach einer gewissen Zeit immer schwieriger wurde, mit abweichenden Meinungen in der eigenen Blase durchzudringen. Meistens wurde recht einseitig argumentiert und der Gruppen-Mainstream wiederholt. Wird anderes angesprochen, will es keine:r hören, im Gegenteil, die Leute sind zunehmend genervt. Wir hatten irgendwann das Gefühl, dass die Seiten geklärt sind, es keine offenen Fragen mehr gibt und niemand bereit war, seine Position zu hinterfragen. Die Zersplitterung hatte sich etabliert und festgesetzt.
Dieses Phänomen greift unabhängig davon, wo jemand in Bezug auf Corona steht. Schlimm genug war, dass eine Zeit lang der Impfstatus Menschen klassifiziert hat. Scheinbar gibt es in uns allen einen tiefsitzenden Instinkt, die »eigenen« Leute wohlwollend und die »anderen« feindselig zu behandeln. Und zwar unabhängig davon, ob wir mit der gegnerischen Gruppe im Streit liegen oder nicht. Diese Theorie der sozialen Identität wurde von den Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner entwickelt.
Tajfel hatte als Pole jüdischer Herkunft in der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg gekämpft und kam in Gefangenschaft. Er gab sich als Franzose aus und überlebte auf diese Weise ab 1940 fünf Jahre in deutschen Kriegsgefangenenlagern. Hätten die deutschen Behörden herausgefunden, dass er ein polnischer Jude war, wäre er umgebracht worden. Er überlebte nur aufgrund seiner neuen Identität als Franzose. So widmete er diesen Themen sein ganzes späteres Forscherleben.
Wir sind Mitglieder vieler sozialer Gruppen. Wir sind Europäerin, Deutsche, Hamburger oder Münchnerin, HSV- oder FC-Bayern-Fan. Wir gehören zu verschiedenen Abteilungen in unseren Unternehmen oder sind einer gewissen religiösen Konfession zugeordnet. Es gibt fast überall Die und Wir. Die Sympathien sind in der Regel klar verteilt. Tatsächlich nehmen wir bereits den Begriff »Wir« positiver wahr als den Begriff »Die anderen«.10 Im Vergleich zu unseren eigenen Gruppen sehen wir fremde Gruppen oft weniger positiv. Das kann gefährlich werden.
Tajfel fand unter anderem heraus: Wir sind so darauf geeicht, die Welt in »wir« und »die« zu sortieren, dass wir es bereits aus den geringsten Anlässen tun. Und weiter: Haben wir die Welt erst einmal in »wir« und »die« sortiert, agieren wir zum Vorteil der Eigengruppe und diskriminieren die Fremdgruppe, und zwar sogar dann, wenn überhaupt kein äußerer Grund dafür vorliegt. Das mag evolutionär gut begründet sein; es war wichtig, dass die eigene Kleingruppe überlebte. Doch heute treibt es manchmal seltsame Blüten. Für mich, Roman Huber, ist Fußball so ein markantes Beispiel. In der Regel interessiere ich mich nicht besonders dafür, aber wenn ich ein FC-Bayern-Spiel anschaue, werden meine tieferen Instinkte wach. Es gibt kaum Spielraum für eine neutrale und übergeordnete Sicht der Dinge. Die Verhältnisse und Sympathien sind für mich völlig eindeutig. Und ich genieße es, einfach nur parteiisch zu sein und mitzufiebern. Ist das Spiel vorbei, schüttle ich mich, wundere mich ein wenig über mich selbst, und das Leben geht weiter.
Viele Konflikte entstehen zwischen sozialen Gruppen durch die Bevorzugung der Eigengruppe. Wir kommen darauf später noch einmal zurück. Denn das bedeutet, dass das Wahrnehmen der eigenen Gruppenzugehörigkeitsgefühle mit entsprechender Voreingenommenheit durch Selbstkritik sowie das Hinterfragen der eigenen (Vor-)Urteile unnötige Konflikte verringern könnte.
Um in »unserer« Gemeinschaft zu sein und zu bleiben, tun wir vieles. Wir beugen uns auch dem Gruppendruck wider besseren Wissens. Manchmal schneller, als uns dies angenehm ist. Eines der klassischen psychologischen Experimente zu Konformität ist schon seit 1951 bekannt.
Unsere Meinung und der Gruppendruck
Wie wirkt sich Gruppendruck auf unsere Meinung aus? Sind Menschen in der Lage, dem Druck der Gruppe standzuhalten? Der Psychologe Solomon Asch hat dazu eines der ältesten Experimente entwickelt. Er ging in den 1950er-Jahren der Frage nach, ob wir unser selbstständiges Denken in Gruppen aufrechterhalten. Die Teilnehmenden des Versuchs bekamen verschiedene Linien unterschiedlicher Länge nebeneinander gezeigt und schauten sich gemeinsam die Linien an, sie sollten die gleich langen Linien bestimmen. Ein sehr einfacher Test. Die Fehlerquote lag bei weniger als einem Prozent. Im zweiten Schritt aber saßen fünf bis sieben Schauspieler in der Teilnehmerrunde, die ohne das Wissen der anderen immer wieder gemeinsame Falschantworten gaben und damit die anderen verunsicherten. Sie bezeichneten Linien als gleich lang, obwohl klar zu sehen war, dass das nicht stimmen konnte. Da aber eben mehrere das Gleiche behaupteten, gerieten die anderen in Zweifel und verwarfen ihre eigene richtige Wahrnehmung. Die Fehlerquote stieg auf unglaubliche 37 Prozent. Als die Teilnehmenden im Anschluss über diese Fake-Manipulation informiert wurden, war die Betroffenheit groß. Das Experiment wurde hundertfach wiederholt. Das Fazit der Versuche: Je größer die Gruppe war und je isolierter die Proband:innen wurden, desto konformer antworteten sie. Umgekehrt galt das Gleiche: Wenn die »Abweichler:innen« zu den Falschaussagen mehr wurden, sank die Fehlerquote deutlich.
Allein daran können wir sehen, wie wichtig es ist, auch »abweichende« Meinungen und das ganze Meinungsspektrum zuzulassen, weil Menschen dann mutiger werden und sich trauen, ihre wirkliche Meinung zu sagen.
Können Sie sich an einen Moment erinnern, in dem Sie Ähnliches erlebt haben? Die Forschung belegt, wie sehr eine Gruppe die Meinung Einzelner beeinflussen kann. Gruppendruck, Konformität, selbst gewählte Gleichschaltung finden dabei schon unter ganz einfachen Bedingungen statt. Das zu wissen hilft. Wenn jedes Mitglied einer Gruppe davon weiß, kann auch jede:r darauf hinweisen.
Die eigene Gruppe zu schützen ist wichtiger Wenn wir uns einer politischen Identität zugehörig fühlen und inhaltlich Anschluss und Rückhalt bei »unseresgleichen« finden, laufen wir auch Gefahr, bestimmtes Wissen, das dieser Position widerspricht, zu meiden. Zum Beispiel hat die »Black-Lives-Matter-Bewegung« in den USA, die 2020 die Polizeigewalt gegen Schwarze thematisiert hat, vorhandene Studien ignoriert, die darauf hindeuten, dass amerikanische Polizisten gerade nicht mehr Schwarze als Weiße bei ihren Polizeieinsätzen töten. Unliebsames Wissen, welches die eigene Position schwächt, wird außen vor gelassen.
Aus der Brille der Evolutionsbiologie ist es, wie bereits erwähnt, sogar ein vernünftiger Vorgang, missliebige Informationen, die die eigene Gruppe bedrohen, aus dem Weg zu räumen. Was ich persönlich über den Klimawandel glaube oder nicht, wird den Klimawandel wenig beeinflussen. Ich bin aber extrem davon abhängig, was meine Freund:innen und Kolleg:innen oder mein weiteres Umfeld über mich denken. Evolutionsbiologisch bedeutete der Ausstoß aus der Gruppe den Tod. Auch heute kann dies den sozialen Tod bedeuten. Deswegen lehnen wir gerne Sachinformationen, die unsere Gruppenzugehörigkeit bedrohen, unbewusst ab. Psychologe Kahan formuliert es noch zugespitzter: »Was wir über die Fakten glauben, sagt uns, wer wir sind.« Das Wichtigste für die Menschen ist ihr Bild von sich selbst und ihre Beziehungen zu den Menschen, denen sie vertrauen, die sie lieben und schützen.
Das gilt sicher für uns alle, aber ganz besonders für Menschen des öffentlichen Lebens, in der Politik, den verschiedenen Lagern, den Parteien, den Parteistiftungen, den Fraktionen im Bundestag usw. Die eigene Gruppe bedeutet hier noch viel mehr: Einfluss, Macht, Gestaltung, Erfolg, Status, Ansehen, Sinn und Lebenszweck. Bei einem Verlust steht die persönliche Existenz und ökonomische Zukunft auf dem Spiel. Allein deswegen ist es nicht leicht, hier aus der Reihe zu tanzen.
Alice Weidel von der AfD könnte es sich nicht leisten, auf einmal für die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles einzutreten. Aber auch Luisa Neubauer von Fridays for Future kann sich nur schwer für die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken oder gar für eine etwas klimaskeptischere Haltung einsetzen. Genauso wenig wie Christian Lindner von der FDP nicht auf einmal für ein Tempolimit eintreten könnte. Sie würden Gefahr laufen, ihre Follower:innen- und Anhänger:innen zu verlieren. Sie würden vermutlich als Verräter:innen gebrandmarkt werden, ihre Positionen und ihr Wirkungsfeld verlieren. Ja mehr noch, Glaubwürdigkeit, Beziehungen und persönliche Freundschaften stünden auf dem Spiel. Entfremdung, Spott oder, noch schlimmer, Zustimmung von der Gegenseite. Es wäre zu schmerzhaft. So einen Positions- und damit Identitätswandel kann sich im politischen Raum kaum jemand leisten und gleichzeitig politisch überleben.
Wenn eine Position oder Meinung Teil der eigenen Identität geworden ist, wird sie kaum mehr geändert. Das ist zu gefährlich und zu schmerzhaft.
Wie oft halten wir uns mit der Äußerung eines Gedanken, einer Meinung in einer Gruppe zurück, nur weil wir nicht anecken wollen? Alle paar Monate oder eher einmal pro Woche? Wenn wir uns selbst beobachten, kommt es häufiger vor als gedacht.
Und wer es dennoch wagt, erfährt meistens unmittelbar die Konsequenzen, und zwar von den eigenen Leuten, von den Kolleg:innen, den Freund:innen, den Familienangehörigen. Egal ob in Gruppen im realen Leben oder in den Medien, in Blogs, in Zeitschriften oder auf Twitter, Facebook und Co. Wenn wir anecken, wird auf Abstand gegangen. Distanzierung ist angesagt, laut oder leise, heftig oder subtil, Hauptsache, das »andere« wird isoliert. Manchmal nur für Momente, manchmal für immer. Eine andere unter anderen hat es schwer. Ein Schweinsbratenesser in Lederhose auf einer veganen Hafermilchparty fordert heraus. Eine Corona-Ungeimpfte unter lauter Geimpften wird sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre ungern zu erkennen geben. Ein Geimpfter unter lauter Ungeimpften auch nicht. Auch Pazifist:innen und Befürworter:innen von Waffenlieferungen haben es schwer miteinander und umgehen lieber die Auseinandersetzung. Das Bedenkliche dabei ist, dass wir dieses Faktenverschlucken zugunsten der Gruppenzugehörigkeit alle mehr oder weniger machen und es in der Regel nicht bemerken. Im Freundeskreis, unter Kolleg:innen oder gesellschaftlich. Es fühlt sich rational und vernünftig an. Diese Art Gruppenbildung kann aber zur Belastungsprobe für die Demokratie werden. Gleichzeitig setzen die, die sich am lautesten für Minderheitenschutz einsetzen, wiederum andere an den Rand. Am Ende geht es nur darum, wer die Deutungshoheit hat. Es ist wichtig, dass wir uns darin üben, diese Mechanismen zu durchschauen. Denn wir brauchen mehr Zusammenhalt, müssen neue Formen des Zusammenhaltes entwickeln und erproben in einer sich immer weiter differenzierenden Gesellschaft.
Der Psychologieprofessor Jonathan Haidt an der New York University beschreibt sinngemäß,11 wenn man in einer Auseinandersetzung an den Punkt kommt, auf dem die Loyalität zur eigenen Gruppe auf dem Spiel steht, ist es vorbei mit der vernünftigen Deliberation. »Denken ist zumeist nur Rationalisierung, die Suche nach Beweisen, welche die eigenen Überzeugungen untermauern.«
Wie oft findet dies in Talkshows, in Podiumsgesprächen oder in den Plenumsdebatten im Bundestag statt? Deswegen wird diese Art der Kommunikation auch Darstellungskommunikation genannt. Es geht nicht um echten Austausch. Wir können, nüchtern gesagt, all diese Gesprächsformate beiseitelassen, wenn es um echte Offenheit, Kreativität, Kooperation und Weiterentwicklung gehen soll.
Wir könnten es ja einmal umdrehen, zwei Kontrahent:innen werden eingeladen, und sie dürfen alles kritisieren, aber nur die eigene Position und das eigene Lager. Es wäre spannender, die Schwächen der eigenen Argumentation, die eigenen Zweifel und Unsicherheiten zu offenbaren. Das würde sicher manche verunsichern, aber auch Vertrauen aufbauen.
Gruppenidentität und Soziale Medien
Die Gruppenidentität wird über die Sozialen Medien noch verstärkt. Durch das Teilen von Inhalten, Liken, Folgen und Abonnieren auf Plattformen im Internet können Menschen zeigen, dass sie Teil einer Gruppe sind. Je mehr sie sich zeigen und beteiligen, desto tiefer wird die Loyalität zur eigenen Gruppe, umso schwieriger wird es, die zugrunde liegenden Ansichten zu ändern oder gar zu verlassen und sich Fakten beziehungsweise anderen Meinungen zu öffnen. In den USA wurde dazu im Jahr 2017 ein Versuch mit über tausend Twitternutzer:innen gemacht. Die Teilnehmenden waren bekennende Demokrat:innen oder Republikaner:innen. Beide Gruppen erklärten sich bereit, einige Monate sachliche Informationen von der jeweils anderen Seite zu empfangen. Ziel des Versuchs war es, herauszufinden, ob es möglich ist, die Gruppen von der jeweils anderen Position über Monate zu überzeugen. Wurden die beiden politischen Lager der jeweils anderen gegenüber toleranter? Wurden sie verständnisvoller oder öffneten sich anderen Positionen?
Nein, leider nicht! Unterm Strich wurden die Republikaner:innen sogar noch republikanischer, also konservativer, aber auch die Demokrat:innen blieben bei ihren Positionen und änderten sich nicht. Ein Fazit des Versuchs ist, dass Menschen sich nicht überzeugen lassen von Menschen, die dem anderen Lager angehören und die sie emotional ablehnen und nicht leiden können.
Forschungsergebnisse zeigen, dass wir auf politische Kommentare und Informationen, die wir ablehnen, sogar körperlich reagieren. Der Atem geht schneller, die Pupillen verengen sich, und das Herz schlägt schneller. Wir sind erregt. Und je erregter wir sind, desto besser, zumindest für die Sozialen Medien selbst. Politik wird bewusst mit Emotionen gemacht und gesteuert. Jeder Klick eine Aufmerksamkeit. Je mehr, desto besser. Je erregter, umso mehr Klicks. Je empörter, desto mehr wird geteilt und so weiter. Das ist uns allen bekannt, und dennoch ist es gut, uns das immer wieder bewusst zu machen. Wer er- und aufregen kann, führt bei der Einschaltquote, den Klickzahlen oder bei den Abozahlen. Das ist das Erfolgsrezept der BILD-Zeitung. Heute sind es die Programmierer:innen der Algorithmen von Google, Facebook, Tiktok, Instagram und Co, die uns am Nasenring durch die Manege ziehen. Deren Ziel ist es, immer wieder neue Identitätsgruppen ausfindig zu machen oder zu definieren. Jeder Klick wird erfasst, analysiert, ausgewertet und zugeordnet. Denn Gruppen sind leichter zu berechnen, mit Werbung zu bespielen, zu beeinflussen und in den Bedürfnissen leichter steuerbar. Ob wir wollen oder nicht, wir können uns diesen Mechanismen nur schwer entziehen.
Hinzu kommt, dass Thesen für wahrscheinlicher gehalten werden, wenn sie immer wieder vorgebracht werden. Überzeugung entsteht auch durch Wiederholung, nicht durch wissenschaftliche Evidenz. Das macht Filterblasen und Echokammern in Sozialen Medien so problematisch, in denen nur noch Menschen mit ähnlicher Meinung miteinander kommunizieren. Filterblasen sind kollektive Netzwerke derselben Identifikation. Der wiederholte Austausch der immer gleichen Ansichten allein lässt diese als wahrer erscheinen, auch wenn keine weiteren Fakten vorgelegt werden. Beispiel: Je öfter wir hörten, dass die Intensivbetten während der Coronapandemie an ihre Kapazitätsgrenzen kommen, desto mehr haben wir es geglaubt. Tatsächlich war während der gesamten drei Pandemiejahre12 die Kapazität der Intensivbetten deutschlandweit nie höher als mit 24,16 Prozent an Coronapatienten ausgelastet. Sich einer Gruppe anzuschließen und dazugehören ist eines der Urbedürfnisse unseres menschlichen Seins. Die Gruppe ist ein Teil unseres Seins, der unser Überleben sichert. Wer sich einer Gruppe zugehörig fühlt – ganz gleich, ob es eine interessenbezogene Zugehörigkeit ist, weil wir den gleichen Studiengang durchlaufen haben, oder eine emotionale, weil wir dieselbe Schule besucht haben oder denselben Ferienort lieben –, setzt eine gewisse »Gleichheit« voraus, die zur gemeinsamen Identität führt. Wir fühlen uns sicher in der Gruppe, weil die anderen ähnlich sind wie wir, weil wir ähnliche Werte und Erfahrungen teilen. Wir fühlen uns dann unterstützt und geborgen und wenig allein. Innerhalb der Gesellschaft gibt es deshalb viele Gruppen, denen wir angehören. Eine solche Gruppenzugehörigkeit führt zwar zum Zusammenhalt der Mitglieder untereinander, manchmal jedoch zur Zerrissenheit im Verhältnis zu anderen.
Wenn Gruppen aufgrund ethischer Werte beginnen, ihre Identität von der Identität anderer Gruppen und deren ethischer Werte abzugrenzen und diese als feindlich oder gar bedrohlich für die eigene Identität erleben, beginnt die Abspaltung. Angst und Vorurteile emotionalisieren die Abgrenzung, und dies kann dazu führen, dass die Gruppen einander abwerten und beginnen, sich gegenseitig zu diskriminieren.
Je bedrohlicher die andere Gruppe für die eigene Gruppe ist, desto mehr muss die andere bekämpft werden. Das gilt unter Fußballfans genauso wie für politische Bereiche. War das nicht früher auch schon so? Oder erscheint uns die Zerrissenheit heute härter als früher? Wir haben darauf keine abschließende Antwort, beobachten aber, dass wir heute gesamtgesellschaftlich unter höherem Druck stehen und weniger resilient sind. Das Leben hat sich beschleunigt und die hereinprasselnde Informationsflut sich vervielfacht. Jede:r Einzelne hat weniger Puffer und ist so vielen Reizen mehr ausgesetzt als noch vor Jahrzehnten. Nervlich sind viele einer chronischen Überreizung ausgesetzt und schneller am Limit.
Wann wird Gruppendenken gefährlich?
Viele Leute, auch Expert:innen, gehen davon aus, dass Gruppen eher gemäßigtere Entscheidungen treffen als Einzelpersonen. Dies beruht auf der Annahme, dass Gruppen sich vor allem auf eine Durchschnittsmeinung einigen. Bei der Mittelposition kann die Mehrheit der Mitglieder einer Gruppe mitgehen, und so werden extreme Außenseiterpositionen ausnivelliert. Eine Gruppe entscheidet sich eher für den Status quo als für radikale Reformen.
Studien zeigen, dass Gruppen unter bestimmten Bedingungen aber sehr wohl radikalere Entscheidungen treffen können als Einzelpersonen.13 In den frühen 1970er-Jahren erforschte Irving Janis von der Universität Yale Bedingungen, die dazu führen, dass in Gruppen eine gefährliche Illusion von Konsens das Kommando übernimmt. Voraussetzungen dafür sind gleich gesinnte, eng miteinander verbundene Mitglieder, eine Führungsperson oder ein -team, das seine Position zu erkennen gibt, sowie die Abkapselung der Gruppe von anderen Einflüssen und Meinungen. In isolierten Gruppen von Gleichgesinnten können abweichende Meinungen ignoriert und wirklich schlimme Fehlentscheidungen getroffen werden. Janis machte fatales Gruppendenken für die katastrophalen Entscheidungen verantwortlich, die zur Invasion kubanischer Exilanten in der Schweinebucht auf Kuba oder das Versagen der Vereinigten Staaten, Japans Angriff auf Pearl Harbor vorauszusehen, führten.
Seit Irving Janis’ bahnbrechender Arbeit und seinen Erkenntnissen wurde »Gruppendenken« bei vielen Katastrophen beobachtet. So soll etwa die Challenger-Katastrophe 1986, bei der der Space Shuttle mit sieben Menschen an Bord kurz nach dem Start auseinanderbrach, darauf zurückzuführen sein, dass die Mehrheit der Ingenieure die technische Warnung eines Technikers überstimmte. Er warnte vor dem Start, dass die Materialbelastung durch Frost und Hitze zu groß sei. Er wurde von den Kollegen trotz mehrstündiger Beratungen überstimmt. Am Ende bewahrheiteten sich seine Befürchtungen. Auch der Irrglaube der Geheimdienste vor dem Irak-Krieg, dass Saddam Hussein über Vorräte an chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen verfüge, soll auf solch ein Gruppendenken zurückzuführen sein. Nach dem Einmarsch der USA in den Irak konnten diese Waffen aber nie gefunden werden, es gab sie nicht. US-Außenminister Powell bedauerte Jahre später diese falsche Tatsachenbehauptung.14
Der Klimaaktivist Sven Hillenkamp bringt es in seinem Essay »Alle Lager liegen falsch«15 so auf den Punkt: »Das erste Axiom politischer Praxis sollte lauten: Jedes Lager liegt in wesentlichen Punkten falsch. Jede Bewegung. Jede Partei. Linke, Liberale, Konservative, Verschwörungsgläubige, bekennende Wissenschaftsfreunde, Aktivist:innen und politisch Enthaltsame.
Jedes Lager tut sich mit anderen Themen schwer. Vor allem, wenn es um den eigenen Markenkern oder den Kern der eigenen Philosophie und Überzeugung geht. Für Liberale sind Eingriffe in die individuelle Freiheit oder den Markt Teufelswerk. Sie wollen gar nicht wissen, wo der Markt nicht funktioniert. Ökos wollen keine Moralapostel sein, Sozialdemokrat:innen nicht sehen, dass der Staat nicht alles für die Menschen regeln kann. Konservative sehen nicht ein, dass es grundsätzliche Veränderungen braucht. Kein:e Immobilienbesitzer:in setzt sich für Mietpreisdeckelungen ein, und wer gerade die Regierungsmacht hat, möchte möglichst wenig durch Bürgerbeteiligung gestört werden. Man könnte lange so weitermachen. Traue niemandem, der oder die nicht auch sich selbst oder das eigene Lager kritisiert!
Nimmt man diese ganze Forschung ernst, rüttelt sie am politischen System, am Mediensystem, an unserem ganz persönlichen, individuellen Rationalitätsanspruch. Heute basiert alles darauf, dass schwierige Probleme gelöst werden, indem Informationen und Fakten zusammengetragen werden und im Austausch darüber vernünftige Lösungen entstehen. Das ist die Grundannahme, zu einer besseren Welt zu gelangen. …
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