Planetar Denken - Planetare Politik

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Planetare Politik

Wir müssen unsere Weltsicht fundamental ändern

Klimawandel, technologische Entwicklungen und Pandemien zeigen, wie verletzlich und

vernetzt unser Leben ist. Es ist nicht mehr genug, global zu denken.

Das Konzept einer menschenzentrierten Welt ist an seine Grenze gekommen.

Ein Essay von Georg Diez

21. März 2023

 

Vor Kurzem saßen zwei Großauguren der Pandemie beisammen und verfingen sich in der

Vergangenheit. Er habe 2020 gedacht, "dass wir die Schulen grundsätzlich offen lassen

könnten und nur lokal schließen, nämlich dort, wo wir die Inzidenz momentan nicht mehr in

den Griff bekommen", sagte Christian Drosten im Spiegel. Worauf Karl Lauterbach

antwortete: "Das lokale Schließen war mir nicht geheuer."

Dieses Gespräch zeigte exemplarisch: Drei Jahre später sind die wesentlichen Fragen

immer noch offen. Wie konnte es zu dieser weltweiten Pandemie kommen? Warum waren

wir als Gesellschaft nicht besser vorbereitet? Weshalb befanden wir uns nicht in der Lage,

präziser und flexibler zu handeln? Wieso haben wir nicht schneller gelernt, sowohl aus

unseren Fehlern und Versäumnissen, als auch aus gelungenen Beispielen anderswo?

Warum war da eine so große Kluft zwischen den gigantischen Fragen und den oft

kleinteiligen Antworten?

 

Die Pandemie hat verdeutlicht, wie verletzlich und vor allem global vernetzt unser Leben ist,

nicht nur im wirtschaftlichen und politischen, sondern auch im biologischen Sinn: Der

Mensch ist Teil eines Systems von Viren und Wetter, von Computern und Lieferketten, von

Daten- und Geldströmen, Teil eines Systems, das über den Menschen weit hinausweist.

 

Die Pandemie hat ebenso gezeigt, dass in diesem Zusammenspiel vermehrt große

Antworten gefunden werden müssen, die dann einer präzisen Umsetzung im Kleinen

bedürfen: Impfkampagnen, medizinische Aufklärung oder Reisebeschränkungen sollten

weltweit organisiert werden, die Einschränkungen im Alltag oder gar die Schulschließungen,

die nun mehr und mehr als Fehler erscheinen, sollten dagegen so spezifisch wie möglich

geregelt werden.

 

Damit ist die Pandemie schließlich ein gutes Beispiel dafür, dass wir unsere Politik radikal

anders organisieren müssen. Eine neue Vorstellung von Politik braucht eine neue

Vorstellung von Welt, die den realen Gegebenheiten besser entspricht: Das Konzept der

Welt, das auf Menschensicht beruht, muss ersetzt werden durch jenes des Planeten, des

Planetaren, also die Gesamtheit dessen, was als Lebendiges oder auch Nicht-Lebendiges

auf dieser Erde existiert, vernetzt, verbunden, verletzlich als System, überlebensfähig als System ist.

 

Und auch die Klimakatastrophe macht klar, wie die bisherige Konzeption einer

menschenzentrierten Welt an ihre Grenzen gekommen ist. Wir können nicht ewig die Natur

ausbeuten, geschweige denn beherrschen, ohne uns selbst als Spezies in Gefahr zu

bringen. Und wir können nicht mit einer Art von Politik, die radikalen Individualismus fördert,

auf komplexe Probleme reagieren. Wir brauchen eine neue Form von Politik, die der Form

der Wirklichkeit entspricht – und diese Form ist planetar.

 

Der italienische Philosoph Lorenzo Marsili formuliert dazu wesentliche Ideen in seinem 2020

erschienenen Buch Planetary Politics: "Wenn unsere Politik in der Krise ist", schreibt er,

"dann liegt das daran, dass unsere Vorstellungskraft an den Grenzen des Nationalstaates

Halt macht." Die Nation, verstanden als Organisationsform für Politik und Rahmen für

Rechtsstaatlichkeit, ist im Zeitalter von Pandemie, Klimakrise und global vernetzten

Technologien ein Hindernis geworden, um die Probleme anzugehen, die Mensch und

Planeten bedrohen.

 

Grenzüberschreitende Interessenskoalitionen

 

Eine planetare Politik brauche deshalb transnationale, "rhizomatische Parteien", die die

Logik der Nationalstaaten überwinden. Parteien etwa, die zwischen Europa und Afrika eine

Einigung darüber herstellen, wie die Flüchtlingsströme und die Beziehungen zwischen den

beiden Kontinenten überhaupt geregelt werden sollten. Es würden hier keine nationalen

Interessen mehr verhandelt, vertreten durch Regierungen der einen oder anderen

politischen Richtung. Es würden vielmehr grenzüberschreitende Interessenskoalitionen

gebildet, die gemeinsam Forderungen formulieren. Es wäre die Organisation einer

"planetaren Bevölkerung", wie Marsili es nennt.

 

Das mag utopisch klingen – tatsächlich sind ja aber längst planetare Akteure am Werk, die

nur größtenteils nicht demokratisch legitimiert sind: weltweit agierende Hedgefonds wie

BlackRock etwa, die mehr Geld verwalten und damit mehr Macht ausüben als praktisch alle

Nationen. Oder globale Institutionen wie die WHO, die Weltbank oder der IWF. Diese

Organisationen haben keine globale demokratische oder gar planetare Legitimation, sie

schaffen einen demokratiefreien planetaren Raum.

 

Man könnte aber auch noch einen Schritt weitergehen und politische Organisationsformen

jenseits des Menschen denken: Was ist mit den Rechten der Natur, der Möglichkeit von

Flüssen, Ozeanen, Wäldern gegen die Zerstörung durch den Menschen vorzugehen? Was

ist mit den Tieren, diesen weitestgehend immer noch rechtlosen Untertanen, die zu

Milliarden geschlachtet werden? Wie kann eine echte Demokratie existieren, die diese

Rechte nicht anerkennt?

 

Das sind einige der Fragen, mit denen der deutsche Politikwissenschaftler Frederic Hanusch

sich in dem gemeinsam mit Claus Leggewie und Erik Meyer geschrieben Buch Planetar

Denken beschäftigt. Die Autoren erläutern in dem 2021 erschienenen Band auch, wie sich

das Konzept des Planetaren vom Globalen unterscheidet. Und zwar indem der Mensch aus

dem Zentrum der Betrachtung genommen wird: Der Globus ist die Welt, wie der Mensch sie

sieht, sie wird von ihm so gefasst und gestaltet, als beleuchtbare Kugel auf dem Schreibtisch

oder als beglaubigtes Konzept in Davos. Die Globalisierung ist deshalb nicht nur ein realer Prozess, sondern gleichzeitig auch die Vorstellung einer bestimmten Art von ökonomischer und politischer Ordnung.

 

Das Planetare dagegen umfasst die gesamte Realität auf der Erde: Natur, Mikroben, die

Vergangenheit wie die Zukunft, die mentale wie die technologische Infrastruktur, die

Verbundenheit der Systeme von Ökologie, Wetter, Landwirtschaft, Essen, Gesundheit,

sowohl körperlich wie geistig, eine Multitude an Wahrheiten, die miteinander in Konflikt und

in Kommunikation stehen – und der Mensch ist ein Teil davon, eingebettet und angewiesen

auf andere.

 

Wie klein und verschwindend er ist, das zeigt sich dem Menschen, wenn er auf das Alter der

Erde schaut. Derlei war etwa Immanuel Kant noch vollkommen fremd, weshalb er den

Menschen ins Zentrum des Kosmos stellte. Doch die "geologische Zeit" schafft den Kontext

für eine andere Sicht auf die Grundlagen und Erfordernisse einer heutigen Politik, die das

Morgen und Übermorgen mitdenken muss. Es gab eine Welt ohne den Menschen und es

wird eine Welt ohne ihn geben: Das sollte unser heutiges Handeln ethisch einbetten in eine

Vorstellung von planetarer Verantwortung.

 

Ähnlich wie diese kosmologische Sicht auf das Leben verhält es sich mit der

meteorologischen Perspektive: Die Szenarien des Klimawandels sind zentral dafür, ein

systemisches Bewusstsein für menschliche Verantwortung, Solidarität und Zusammenhalt

zu entwickeln: Jede Politik muss diese Art von planetarer Ethik berücksichtigen. Oder

genauer: Sie muss erst entwickelt werden, damit sie Grundlage von Politik werden kann.

Das 2021 gefällte Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Klimaschutz ist dabei ein

Beispiel solchen Denkens, weil es die Rechte künftiger Generationen mitbedachte.

 

Positive Biopolitik

 

Und auch die Pandemie hätte ein Anstoß dafür sein können, grundsätzlich anders über

Politik, Demokratie und die systemischen Existenzweisen nachzudenken, handelte es sich

doch um einen virologisch bedingten Einbruch der Wirklichkeit, der den Mythos der

Berechenbarkeit entlarvte: Die "Rache des Realen", so nennt es der amerikanische

Philosoph Benjamin Bratton in seinem 2022 publizierten Buch Die Realität schlägt zurück –

Politik für eine postpandemische Welt.

 

Bratton betrachtet darin das weitgehende Versagen der Politik in den westlichen

Demokratien während der Pandemie – und beschreibt die Kluft zwischen einer

nationalstaatlich organisierten wie individualistisch orchestrierten Weltsicht und der realen

Bedrohung durch das Virus. Seine Forderung: Wir brauchen eine Regierungsform, die auf

"planetarem technologischen Rationalismus" basiert, womit er die kommunikative und

infrastrukturelle Vernetztheit meint, etwa durch Internet, weltweite Computersysteme und

weltumspannende Leitungen. Die kontraintuitive Konsequenz aus dieser technologischen

Komponente wäre für Bratton eine planetare Gesellschaft, die nach den Prinzipien von

"Mitgefühl und Vernunft" gestaltet ist.

 

Die Pandemie liefert Bratton hier das Beispiel. Er geht davon aus, dass gutes Regieren auf

einem Maximum an Wissen und Informationen beruht – und die Pandemie hat eben gezeigt,

wie abgekoppelt von der verfügbaren Wirklichkeit viele Entscheidungen getroffen wurden.

Es fehlten wesentliche Informationen oder Prozesse, um verfügbare Informationen

zugänglich zu machen. "Test and track" lautete damals der Slogan, der in Deutschland nie

wirklich umgesetzt wurde, auch weil die mentale und technologische Infrastruktur dafür

fehlte.

 

In Ländern wie Taiwan wurde diese sehr datengetriebene Pandemiebekämpfung hingegen

viel konsequenter genutzt, ohne zugleich den Datenschutz aufzugeben. Hier war es Audrey

Tang, in Taiwans Regierung für Digitalisierung zuständig, die eine zentrale Rolle einnahm

und eine Form von digital unterfütterter Demokratie vorführte, die zukunftsweisend sein

könnte, gerade weil sie die Menschen von Anfang an in wesentliche Entscheidungen mit

einband, weil die Kommunikation transparent und das Vorgehen kleinteilig und lokal war –

also genau das, was Karl Lauterbach so ungeheuer erschien.

 

Grundlage von Taiwans Pandemiebekämpfung waren die verfügbaren Informationen, digital

erhoben und vermittelt, eine Art "sinnstiftende Schicht", so nennt es Bratton, die Basis für

rationale Politik, die sich nicht nach Bauchgefühl, Umfragewerten oder Willkür einiger

Ministerpräsidenten richtet. "Wir brauchen eine Politik", schreibt Bratton, "die auf die

Komplexität der Realität angemessen reagieren kann."

 

Zentral für die Reflexion über diese kommende Politik ist dabei der Begriff des Lebens –

oder auch des "nackten Lebens", wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben

genannt hat: Wie ist es zu schützen und was sind die Konsequenzen, wenn Politik bei

diesem Schutz zu weit geht und die Freiheit übermäßig einschränkt? Im Fall der Pandemie

hat diese Frage einige Leute ziemlich weit ins Abseits des demokratischen Denkens geführt,

so auch Agamben selbst, der die Pandemiemaßnahmen als eine Form des Faschismus

beschrieb und die moderne Medizin generell verdammte.

 

Bratton setzt sich klar von dieser, wie er es nennt, "negativen Biopolitik" ab, die hinter allen

Hygienemaßnahmen einen Überwachungs- oder Sicherheitsstaat vermutet, gegen den es

sich zu wehren gilt. Eine "positive Biopolitik" dagegen steht für das, was zuvor als planetares

Denken beschrieben wurde: Der Begriff des Lebens umfasst nicht nur das des Menschen,

sondern Tiere, Pflanzen, alles. Daraus folgt nicht nur, schreibt Bratton, ein "Neuorganisieren

der Institutionen, um die Leere zu füllen, die durch die gegenwärtige internationale

geopolitische Anarchie" geschaffen wurde – wir müssen auch uns selbst als Menschen "neu

sehen und neu erschaffen".

 

Was wir brauchen, ist eine weitere kopernikanische Wende, eine fundamentale Revision

unserer Weltsicht.

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