Das neue Weltbild und unsere Lebenssphäre
Aus: Geist, Kosmos und Physik: Gedanken über die Einheit des Lebens - Hans-Peter Dürr, 20100
Die Wirklichkeit ist ein nicht-auftrennbares, immaterielles Beziehungsgefüge, eine Art „Erwartungsfeld“ für zukünftig mögliche energetisch-materielle Manifestationen. Die Zukunft ist dabei wesentlich offen, was heißen soll, dass sie nicht ganz beliebig offen, sondern durch gewisse allgemeine Bedingungen eingeengt ist, die mit den sogenannten Erhaltungssätzen zusammenhängen und aus Symmetrie-Eigenschaften der Dynamik resultieren. Hierzu gehört insbesondere die Erhaltung der Energie, welche die „Masse“, nach Einstein, als eine konzentrierte Form der Energie einschließt, doch auch die Erhaltung der elektrischen Ladung und anderer. Sie sorgen dafür, dass bei der Mittlung im Großen überhaupt Eigenschaften, die Kenngrößen der klassischen Physik, übrig bleiben und greifbar werden. Unbelebtes und Belebtes sind nicht mehr grundsätzlich unterschiedlich, sondern erscheinen als statisch stabile bzw. dynamisch stabilisierte statisch instabile Agglomerate, besser: Artikulationen, geformte Teilhabende des Ganz-Einen. Mit derwichtigen Konsequenz: Mensch und Natur sind, wie alles, bei dieser Sichtweise prinzipiell nicht getrennt. Das bedeutet nicht, dass sich im Großen nicht qualitative Unterschiede herausbilden können, wie insbesondere die Möglichkeit kreativer Gestaltung im Rahmen der bedingt offenen Zukunft. Die prinzipielle Offenheit der Zukunft hat wesentliche Folgen für unser Verständnis der Welt, ihrer Entwicklung und unserer Beziehung zu ihr.
Wie stellen sich die Wissenschaftler der klassischen Physik den Anfang der Welt vor? Am Anfang war ein „Big Bang“. In diesem Urknall muss die ganze Wirklichkeit angelegt sein, alles, was die Forscher über ihre auf etwa 15 Milliarden Jahre bezifferte Vergangenheit durch ihre Beobachtungen herausgefunden haben oder wenigstens vermuten, und alles, was je in Zukunft passieren wird. Alles muss am Anfang eingebaut sein, nichts darf vergessen werden. Alles, was je geschieht, ist einfach nur eine Entfaltung dessen, was schon im Grunde am Anfang angelegt ist. Das ist in seiner Starrheit nicht sehr befriedigend.
Die neue Auffassung hingegen vertritt die Meinung: Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sie ereignet sich in jedem Augenblick neu, und wir sind alle als Teilhabende eines nicht-auftrennbaren Kosmos am fortlaufenden Schöpfungsprozess beteiligt. Die Frage nach Gott, insbesondere im Sinne eines Schöpfergottes, ist nicht zulässig, da sie ins Leere zielt. Wenn Leute mich fragen: „Was bist du denn?“ „Glaubst du an Gott? Bist du ein Monotheist oder ein Pantheist oder was?“ Dann sage ich oft: „Ich bin ein „Atheist“.“ Hierbei soll aber, wie im Sanskrit, die Vorsilbe A- nicht eine Verneinung bedeuten, sondern das Ziel der Frage für ungültig erklären. Anders ausgedrückt: Gott ist für mich, was nicht gezählt werden kann, weil es das Ganz-Eine meint, nämlich Advaita, das Unauftrennbare. Das heißt, die Frage: „Wie viele Götter gibt es?“, ist eine unsinnige Frage, wie die Frage nach der Farbe eines Kreises. Nur in diesem Sinne bin ich ein A-theist. Aber ich bin kein Atheist in dem Sinne eines Ungläubigen, da ich nicht an einem über unser Verständnis hinausgehenden Zusammenhang zweifele: Ein einziges Beziehungsgefüge, das viele Namen hat – und alle diese sind nur Gleichnisse. Wir können es Geist oder Liebe nennen. Die Liebe ist das, was für mich am besten zum Ausdruck bringt, was wir als „alles miteinander zusammenhängend“ empfinden, und zwar in der sich ständig wandelnden Form eines geistig-lebendigen Kosmos und auf eine Weise, wie wir sie individuell unmittelbar durch Empathie erleben. Im letzteren Sinne wäre ich ein „liebender Atheist“.
Es ist ganz wichtig, dass wir uns nicht als Teile, sondern als Teilhabende dieses Kosmos erfahren, der sinngemäß die Beziehung und nicht das Dingliche betont, und es deshalb auf uns alle ankommt. Wir sind Mitschöpfer. Die zukünftige Entwicklung hängt von uns ab. Wir können selbstverständlich die Welt nicht beliebig ändern, aber wir sollten wissen, dass wir mit unseren Entscheidungen auch immer zum Gesamten beitragen. Andererseits sind jedoch unsere Entscheidungen selbst schon immer eingebettet und eingebunden in etwas, das wir mit Allem gemeinsam haben, was das streng Private jeder persönlichen Entscheidung relativiert. Auf Grund dieser Vorstellungen stellen wir fest: Wenn wir die Welt verändern wollen, dann ist es nicht notwendig, dass wir mit sechseinhalb Milliarden Menschen einen Dialog beginnen müssen. Den Dialog brauchen wir kaum, um den anderen zu überzeugen, sondern nur, um ihn/sie daran zu erinnern, was er/ sie eigentlich schon weiß. Denn wir haben dreieinhalb Milliarden Jahre derselben Entwicklung hinter uns. Diese Entwicklung hat nicht mit unserer energetisch-materiellen Realisierung, unserem Körper, zu tun, denn was sozusagen unsere „Software“ ist, die ist nicht in unserem Körper eingeschlossen, sondern gewissermaßen überall, in anderen Räumen, und wir sind alle angeschlossen. Das ist eine Art Internet-Version, die ich abrufen kann. Ich kann herausbekommen, wo die anderen sind und auch meine eigenen Entscheidungen daran ausrichten. Wir sind nicht wie ein Materieklumpen allein in der Welt und nur über Wechselwirkungen mit der Umgebung in Verbindung, sondern wir sind eingebettet in das Ganz-Eine, so dass wir schon etwas wissen, das wir weitergeben, und darüber hinaus 0gewisse Prozesse verstärken können, die wirklich zukunftsfähig sind.
Kreativität - Verletzung - Heilung
Wenn ich als Ego bewusst etwas mache, verursache ich in der Realität in gewisser Weise eine Verletzung des Bestehenden, wie die Infektion eines gesunden Organismus. Denn als enges Ego erfahre ich nur etwas wie Emanzipation: „Ich bin frei!“ Warum soll ich mich um das verbleibende Beziehungsgefüge kümmern, das mehr wie eine störende Last an mir hängt? Ich kann diese Beziehung jedoch nicht ganz weglassen, sonst könnte ich zum anderen keinen Kontakt aufnehmen und würde vereinsamen. Der Zusammenhang wird durch energetisch-materielle Wechselwirkungen erklärt. Jeder Infektion folgt ein Heilungsprozess, der langsamer als die Infektion verläuft: Jetzt habe ich das Gleichgewicht gestört, nun muss es wiederhergestellt werden, wenn möglich in einer qualitativ besseren Form, etwa im Sinne eines robusteren Immunsystems. Wenn mir das nicht gelingt, und das passiert, wenn die Infektion zu groß ist und sich als starrköpfiger Störenfried gebärdet, dann hat er keine Überlebenschance, er wird aus der Evolution hinausgeworfen. Die Infektion ist Auslöser der Wandlung. Der erfolgreiche Heilungsprozess jedoch ist das letztlich Wesentliche, um das Lebendige zur Weiterentwicklung und zur vollen Entfaltung zu bringen. Streng gültig erscheinende Naturgesetze geben uns die Möglichkeit, unsere Umwelt zu unserem jeweils eigenen Nutzen zu manipulieren. Die Verallgemeinerung ihrer strengen Gültigkeit auf das Lebendige führt zu einer gefährlichen Fehlentwicklung, die immer wieder die Evolution des Lebendigen gefährdet. Die Folgen sind jedoch in der Regel nicht katastrophal. Die Lebewesen, die so zerstörerisch wirken – und ich denke hierbei in großer Sorge vor allem an uns Menschen – werden gewöhnlich nach kurzer Zeit aus dem qualitativ ständig reicheren und flexibleren Lebensprozess hinausgeworfen, oder sie werden zu einem Ast, der nicht mehr nach oben strebt, sondern seitwärts endet oder sich am Ende selbst absägt. Da gibt es keine übermächtige Polizei, die sagt, was ethisch erlaubt ist oder nicht, sondern das entgleiste System ruiniert sich selbst, leider auch mit Schädigung anderer.
Quantenphysik und Buddhismus
Frage: Warum klingt das, was Sie über Quantenphysik erzählen, so buddhistisch?
Dürr: Das fragen mich oft Leute, die mit Buddhismus vertraut sind. Mein Ausgangspunkt war jedenfalls nicht der Buddhismus, sondern die paradox erscheinende Erkenntnis der Quantenphysik. Die größere Nähe zu den asiatischen Religionen, wie Buddhismus oder Daoismus u.a., rührt meines Erachtens daher, dass diese im Vergleich zu unseren Religionen, insbesondere den theistischen Konfessionen, keine Religion sind, weil sie auf dem offeneren und tieferen mystischen „religio“-Niveau angesiedelt sind, mit der Schwäche vielleicht, dass sie das aus dem originär Kreativen resultierende Lebendige nicht ausreichend eingebunden haben. Doch hier noch einige spezielle Aspekte, die mein Interesse am Buddhismus und allgemeiner an den asiatischen Traditionen im Kontrast zu unseren abendländischen geweckt haben. Aus der Sicht der Quantenphysik, in meiner Interpretation, gibt es keinen isolierten Gott. In gewisser Weise sind Schöpfung und Schöpfer dasselbe, ein zeitlich offenes, lebendiges Beziehungsgefüge ohne Obrigkeit, das „All-Eine“ oder besser in Sanskrit: „A-dvaita“. Advaita bedeutet dabei mehr als die Negation „Nicht-Zweiheit“. Es ist die Abwesenheit der Qualität der Trennung (also ähnlich wie wir auf die Frage nach der Farbe eines Kreises diesen besser als „a-chrom” und nicht als „farblos” bezeichnen sollten).
Gleichnishaft empfinden wir ein Bedürfnis und ein Bestreben, uns weiter und höher zu entwickeln, um das „Andere“ besser wahrzunehmen, verbunden mit der Vorstellung eines möglichen Emporsteigens: Ich möchte dem Buddha näherkommen. Doch aus „neuer“ Sicht ist Alles unauftrennbar miteinander verbunden, also nicht nur das von uns zunächst wahrgenommene Irdische, sondern das allumfassende Kosmische, eben die Wirklichkeit als Advaita. Für einen Vergleich passt mir deshalb vielleicht als Leitbild besser das Symbol eines Bodhisattva: Ich will nicht nur Mich Selbst weiter entwickeln, sondern Alles anheben, denn Ich bin ja nicht ein Teil, sondern Teilhabender, Teilnehmer, aber auch Mitwirkender an der gemeinsamen dynamischen Wirklichkeit und damit auch Mitträger der Evolution des Lebendigen.
Mein „Ich“ ist nicht im Raum lokalisiert, verbirgt sich nicht unter meiner Haut oder nah an meinem Herzen, sondern ist unendlich ausgebreitet. Du und Ich kommunizieren nicht über räumliche Distanz miteinander, wir sind in Kommunion, wo mein Ich und dein Du ausgedehnt sind, so dass beide sich nicht nur treffen, sondern den anderen mit einschließen. Betrachten wir das Meer, so ist bei Wind seine Oberfläche gekennzeichnet durch bewegte Wellen verschiedener Größe, von weißen Schaumkronen gekrönt. Von oben gesehen, haben wir vom Meer den Eindruck einer blauen Fläche mit vielen getrennten weißen Flecken, die, auf nicht einfache Weise verbunden, miteinander spielen. Ein Gleichnis für unsere scheinbare Unabhängigkeit voneinander, aber der Fähigkeit, miteinander in Verbindung zu sein und zu kommunizieren. Wir, als Schaumkronen, sind noch getrennt, aber wenn ich in oder mit meiner Welle nach unten gehe und meine Nachbarwelle macht das Gleiche, was einem innigeren Dialog entspricht und am Schluss in einem beidseitigen „Ja, ja, ja“ endet, dann ist das keine Resonanz, sondern wir sind beide tiefer ins Meer eingetaucht und haben dort zu unserem Erstaunen den anderen im gleichen Wasser angetroffen. Wir erkennen, dass wir beide Beteiligte in einem bewegten Ozean sind. Aus dieser gemeinsamen Erkenntnis heraus können wir Spiele inszenieren, wo wir im Wellenschlag uns nicht nur gegeneinander bremsen, sondern uns miteinander zu einer höheren Welle aufschaukeln können.
Ich bin nicht Teil, sondern Beteiligter
Die Trennung, im Gegensatz zur bloßen Unterscheidung, ist immer ein gewaltsamer Einschnitt. Sie ist aber angemessen und praktisch für unseren Alltag, wenn ich agieren, etwas verändern oder konkret einen Knopf, der etwas auslösen soll, drücken will. Dann muss ich so tun, als ob ich ein getrenntes Subjekt wäre. Das abgetrennte Objekt wird dann zum Ding und damit zum Teil einer Realität, die nicht mit der Wirklichkeit identisch ist. Wir sind ganz in der gesetzlich gesteuerten Realität. Erst die „geistige“ Komponente der Wirklichkeit gibt uns jedoch die Möglichkeit, schöpferisch zu sein, gewissermaßen Gott-ähnliche Kreativität zu entwickeln. Wenn ich ein Mediziner bin, der nur den Teil des Menschen im Auge hat, den er messen kann, ignoriere ich bewusst oder unbewusst den anderen, den lebendigen und spirituellen Teil des Menschen. Doch durch diese erzwungene Reduktion der Wirklichkeit und den daraus resultierenden Reduktionismus wird Naturwissenschaft im herkömmlichen Sinne möglich. Naturwissenschaften wollen, um verlässlich zu sein, möglichst nah an die exakte Physik des 19. Jahrhunderts heranrücken. Für sie spielen die revolutionär neuen Einsichten der Physik des 20. Jahrhunderts keine oder keine wesentliche Rolle, weil sie aus wissenschaftlich verständlichen Gründen glauben, in ihrem Bereich diese auch mit Recht ignorieren zu können.
Wir befinden uns deshalb heute in einer eigentümlichen Situation. Die Physiker des 20. Jahrhunderts sind den Lebenswissenschaften, der Biologie und Medizin, auf mehr als halbem Wege entgegengekommen. Sie haben dabei ihre Forderung nach Exaktheit aufgegeben und die Physik in das Lebendige integriert, sie gewissermaßen an die alten Lebensweisheiten angekoppelt. Aber dieser Schritt wird von den Lebenswissenschaften, so auch von einigen Physikern, noch nicht ernst genommen. Sie wollen als exakte Naturwissenschaften, mit ihren soliden messbaren Grundlagen, wie ehemals die Physik, ernst genommen werden und – was vielleicht in unserer auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Zivilisation das Wichtigste ist – die alte Hoffnung des Menschen noch nicht aufgeben, die ganze Natur letztlich in den Griff bekommen zu können. Aus neuer Sicht klammern sie jedoch durch diese überholte Forderung das eigentlich Wesentliche, nämlich das originär Lebendige, aus. Wir, als lebende Wesen, sollten eigentlich keine Schwierigkeiten haben, die Erkenntnisse der neuen Physik, wenn nicht zu verstehen so doch sie zu akzeptieren und mehr noch, sie sogar freudig aufzunehmen, da sie überraschende Möglichkeiten öffnen, Brücken zwischen den Wissenschaften und Religionen zu schlagen. Denn auch die Mehrzahl der tradierten Weisheiten sprechen von einer All-Verbundenheit.