Aus: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1979 (Dritte Auflage 1982)
Kapitel 5 I. Zukunft der Menschheit und Zukunft der Natur (S.245)
I. Solidarítät des Interesses mit der organischen Welt
Die Zukunft der Menschheit ist die erste Pflicht menschlichen Kollektivverhaltens im Zeitalter der modo negativo ››allmächtig<< gewordenen technischen Zivilisation. Hierin ist die Zukunft der Natur als sine-qua-non offenkundig mitenthalten, ist aber auch unabhängig davon eine rmetaphysische Verantwortung an und für sich, nachdem der Mensch nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Biosphäre gefährlich geworden ist. Selbst wenn sich beides trennen ließe das heißt, auch wenn mit einer verödeten (und großenteils durch Kunst ersetzten) Lebensumwelt ein menschlich zu nennendes Leben für unsere Nachkommen möglich wäre - hätte doch die in langem Schöpfertum der Natur hervorgebrachte und jetzt uns ausgelieferte Lebensfülle der Erde um ihrer selbst willen Anspruch auf unsere Hut.
Da beides sich jedoch, ohne eine Karikatur des Menschenbildes, in der Tat nicht trennen läßt, da vielmehr im Entscheidenden, nämlich der Alternative »Erhaltung oder Zerstörung«, das Interesse des Menschen mit dem des übrigen Lebens als seiner Weltheimat irn sublimsten Sinn zusammenfällt, so können wir die beiden Pflichten unter dem Leitbegriff der Pflicht zum Menschen als eine behandeln, ohne darum in anthropozentrische Verengung zu fallen. Die Verengung auf den Menschen allein und als von aller übrigen Natur verschieden kann nur Verengung, ja Entmenschung des Menschen selbst bedeuten, die Verkümmerung seines Wesens auch im Glücksfall biologischer Erhaltung - widerspricht also ihrem vorgeblichen, eben von der Würde seines Wesens beglaubigten Ziel.
Im wahrhaft menschlichen Blickpunkt bleibt der Natur ihre Eigenwürde, die der Willkür unserer Macht entgegensteht. Als von ihr hervorgebracht schulden wir dem verwandten Ganzen ihrer Hervorbringungen eine Treue, wovon die zu unserem eigenen Sein nur die höchste Spitze ist. Diese aber recht verstanden, befaßt alles andere unter sich.
2. Egoismus der Arten und sein symbiotisches Gesamtergebnis
In der Wahl zwischen Mensch und Natur, wie sie sich im Daseinskampf von Fall zu Fall immer wieder stellt, kommt allerdings der Mensch zuerst und die Natur, auch wenn ihre Würde zugestanden ist, muß ihm und seiner höheren Würde weichen. Oder, wenn die Idee irgendeines ››höheren« Rechtes hier bestritten Wird, so geht doch, gemäß der Natur selbst, der Egoismus der Art immer voran und die Ausübung der Menschenmacht gegen die übrige Lebenswelt ist ein natürliches, aus dem Können allein begründetes Recht.
Das war praktisch der Standpunkt aller Zeiten, in denen die Natur im Großen unverletzlich und deshalb in allem Einzelnen dem Menschen zum unbekümmerten Gebrauch freizustehen schien. Aber selbst wenn weiterhin die Pflicht zum Menschen als die absolute gilt, so schließt sie doch nun die zur Natur als der Bedingung seiner eigenen Fortdauer mit als einem Element seiner eigenen existentiellen Vollständigkeit ein. Wir gehen darüber hinaus und sagen, daß die in der Gefahr neuentdeckte Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Natur uns auch die selbsteigene Würde der Natur wiederentdecken läßt und uns über das Utilitarische hinaus ihre Integrität bewahren heißt.
Es braucht kaum gesagt zu werden, daß ein sentimentales Verständnis dieses Gebotes ausgeschlossen ist durch das Gesetz des Lebens selbst, das offenbar in die zu erhaltende ››Integrität<< mit einbezogen ist, also selber erhalten werden muß. Denn Übergriff in anderes Leben ist mit der Zugehörigkeit zum Lebensbereich eo ipso gegeben, da jede Art von anderen lebt oder deren Umwelt mitbestimmt und daher die bloße, von Natur betriebene Selbsterhaltung einer jeden einen fortwährenden Eingriff in das übrige Lebensgefüge darstellt. Simpel gesagt: Fressen und Gefressenwerden ist Existenzprinzip eben der Mannigfaltigkeit, die das Gebot um ihrer selbst willen bejaht. (Stoffwechsel lediglich rnit der anorganischen Natur - womit das
Ganze einmal begonnen haben muß - findet nur an der untersten Grenze statt.)
Die Summe dieser gegenseitig limitierenden, immer mit Vernichtung im Einzelnen einhergehenden Eingriffe ist im Ganzen symbiotisch, obwohl nicht statisch, mit jenem Kommen, Gehen und Bleiben, das uns aus der Dynamik vormenschlicher Evolution bekannt ist. Das harte Gesetz der Ökologie (zuerst von Malthus gesehen) verhinderte jeden übermäßigen Raub der einzelnen Lebensform am Ganzen, jedes Überhandnehmen eines ››Stärksten«, und der Bestand des Ganzen war sicher im Wandel seiner Teile. Hiervon machte selbst das zunehmend einseitige Eingreifen des Menschen bis vor kurzem noch keine entscheidende Ausnahme.
3. Störung des symbiotischen Gleichgewichts durch den Menschen
Erst mit der Überlegenheit des Denkens und mit der Macht der hierdurch ermöglichten technischen Zivilisation ist eine Lebensform, ››der Mensch«, in die Lage versetzt worden, alle anderen (und damit auch sich selbst) zu gefährden. Kein größeres Wagnis konnte »die Natur« eingehen, als den Menschen entstehen zu lassen, und jede aristotelische Vorstellung von der sich selbst dienenden und zum Ganzen integrierenden Teleologie der Gesamtnatur (Physis) ist durch dies, das auch ein Aristoteles noch nicht ahnen konnte, widerlegt. Für ihn war es die theoretische Vernunft im Menschen, die über die Natur hinausragt, ihr aber mit ihrer Kontemplation gewiß nichts zuleide tut.
Der emanzipierte praktische Intellekt, den die ››Wissenschaft«, ein Erbe jenes theoretischen Intellekts, erzeugt hat, stellt der Natur nicht nur sein Denken sondern auch sein Tun in einer Weise gegenüber, die mit dem unbewußten Funktionieren des Ganzen nicht mehr vereinbar ist: Im Menschen hat die Natur sich selbst gestört und nur in seiner moralischen Begabung (die wir wie das andere ihr noch zuschreiben dürfen) einen unsicheren Ausgleich für die erschütterte Sicherheit der Selbstregulierung offengelassen. Es hat etwas Erschreckendes an sich, daß hierauf nun ihre Sache stehen soll - oder sagen wir bescheidener: so viel von ihrer dem Menschen sichtbaren Sache.
Nach den Zeitmaßen der Evolution und sogar den soviel kürzeren der Menschengeschichte ist dies eine fast plötzliche Wendung im Schicksal der Natur. Ihre Möglichkeit lag im Wesen des weltunabhängigen Wissens und Willens, das mit dem Menschen in die Welt einbrach, aber ihre Wirklichkeit reifte langsam und war dann plötzlich da. In diesem Jahrhundert ist der lange vorbereitete Punkt erreicht worden, wo die Gefahr offenbar und kritisch wird. Macht im Verein mit Vernunft führt an sich Verantwortung mit sich. Dies hat sich von jeher für den zwischenmenschlichen Bereich verstanden. Daß die Verantwortung sich neuerdings darüber hinaus auf den Zustand der Biosphäre und das künftige Überleben der Menschenart erstreckt, ist schlicht mit der Ausdehnung der Macht über diese Dinge gegeben, die in erster Linie eine Macht der Zerstörung ist. Macht und Gefahr machen eine Pflicht offenbar, die durch die wahlentzogene Solidarität mit dem Übrigen sich auch ohne besondere Zustimmung vom eigenen Sein auf das allgemeine erstreckt.
4. Die Gefahr enthüllt das Nein zum Nichtsein als primäre Pflicht
Wiederholen Wir: Die Pflicht, von der wir hier sprechen, ist erst mit der Gefährdung dessen, worum es in ihr geht, hervorgetreten. Vorher hätte es keinen Sinn gehabt, von dergleichen zu reden. Was auf dem Spiele steht, meldet sich zum Wort. Plötzlich steht das schlechthin Gegebene, als selbstverständlich Hingenommene, niemals fürs Handeln Bedachte: daß es Menschen gibt, daß es Leben gibt, daß es eine Welt hierfür gibt, im Wetterlichte der Bedrohung durch menschliches Tun.
In eben diesem Lichte erscheint die neue Pflicht. Aus der Gefährdung geboren, dringt sie notwendig zu allererst auf eine Ethik der Erhaltung, der Bewahrung, der Verhütung und nicht des Fortschritts und der Vervollkommnung. Trotz dieser Bescheidenheit des Zieles können ihre Gebote schwer genug sein, opferheischender vielleicht als alle, die bisher der Verbesserung des Menschenloses galten. Wir sagten zu Anfang des vorigen Kapitels, daß der Mensch, nicht mehr einfach weiterer Vollstrecker sondern auch potentieller Zerstörer der Zweckarbeit der Natur, ihr allgemeines ja in sein Wollen übernehmen und das Nein zum Nichtsein seinem Können auferlegen muß.
Die negative Macht der Freiheit bringt es mit sich, daß Dürfen und Nichtdürfen vor dem positiven Sollen kommt. Dies ist erst der Anfang der Moral und natürlich unzureichend für eine positive Pflichtenlehre. Zum Glück für unser theoretisches Unterfangen und zum Unglück für unsere heutige Lage brauchen wir uns auf eine Theorie vom bonum humanum und vom »besten Menschen«, die sich aus einer Erkenntnis seines Wesens herleiten müßte, nicht einzulassen. Für den Augenblick tritt alle Arbeit am ››eigentlichen« Menschen zurück hinter der bloßen Rettung der Voraussetzungung dafür - der Existenz einer Menschheit in einer zulänglichen Natur.
Von der immer offenen Frage, was der Mensch sein soll, deren Antwort wandelbar ist, sind wir in der totalen Gefahr des welthistorischen Jetzt zurückgeworfen auf das erste, jener Frage immer schon zugrundeliegende, aber bisher nie aktuell gewordene Gebot, daß er sein soll allerdings als Mensch. Dies ››als<< bringt das Wesen, soviel wir davon wissen oder ahnen, in den Imperativ des ››daß« als den letzten Grund seiner Unbedingtheit mit hinein und muß seine Befolgung davor hüten, daß der Abgrund ihrer Opfer die ontologische Sanktionierung mitverschlinge - also die ontisch gerettete Existenz eine nicht mehr menschliche sein wird. Bei der Härte der Opfer, die nötig sein könnten, mag dies der prekärste Aspekt der Ethik des Überlebens werden, die uns jetzt auferlegt ist und worüber noch manches zu sagen sein wird: ein Grat zwischen zwei Abgründen, wo die Mittel den Zweck zerstören können. Diesen Grat müssen wir wandeln im ungewissen Licht unseres Wissens und in Achtung dessen, was der Mensch in Jahrtausenden der Kulturbemühung aus sich gemacht hat.
Aber worauf es jetzt ankommt, ist nicht, ein bestimmtes Menschenbild zu perpetuieren oder herbeizuführen, sondern zuallererst den Horizont der Möglichkeit offenzuhalten, der im Fall des Menschen mit der Existenz der Art als solcher gegeben ist und - wie wir dem Versprechen der »imago Dei« glauben müssen - der menschlichen Essenz immer neu ihre Chance bieten wird.
Also ist das Nein zum Nichtsein - und zuerst zu dem des Menschen - im Augenblick und bis auf weiteres das Erste, womit eine Notstandsethik der bedrohten Zukunft das Ja zum Sein, das dem Menschen vom Ganzen der Dinge zur Pflicht wird, in kollektive Tat umsetzen muß.
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