»Das Patriarchat ist eine Anomalie in der Menschheitsgeschichte«
SPIEGEL-Gespräch mit Carel van Schaik
Eva und Adam waren gleich, erst Sesshaftigkeit und Besitz versklavten im Laufe der Jahrtausende die Frau. Der Anthropologe Carel van Schaik erklärt, warum bald Schluss ist mit der Herrschaft der Männer.
Van Schaik, 67, begann seine Biologenkarriere als Botaniker. Doch dann verliebte er sich in eine Primatologin, Maria van Noordwijk; er ging mit ihr nach Indonesien, sie heirateten und erforschten Orang-Utans. Besonders fasziniert den Anthropologen das äffische Erbe, das den Homo sapiens bis heute prägt. Zuletzt leitete der Niederländer das Anthropologische Institut und Museum der Universität Zürich. Gemeinsam mit dem Historiker Kai Michel hat er nun ein Buch verfasst, das die Ursprünge und die Zukunft des Patriarchats auslotet(**).
SPIEGEL: Herr Professor van Schaik, Angela Merkel und einige wenige Kolleginnen an der Spitze mächtiger Regierungen schienen lange einsame Ausnahmen zu sein. Zieht in Gestalt der designierten US-Vizepräsidentin Kamala Harris nun die Patriarchatsdämmerung herauf?
Van Schaik: Immerhin hieß es nach der US-Wahl vor vier Jahren, dass Trump nur gewonnen habe, weil viele Menschen – vor allem Männer – es nicht über sich hatten bringen können, für eine Frau, Hillary Clinton, zu stimmen. Es wäre also ein interessantes Gedankenexperiment, sich vorzustellen, ob die umgekehrte Variante, Harris mit einem Vizepräsidenten Biden, auch erfolgreich gewesen wäre.
SPIEGEL: Was ist denn mit den großen Herrscherinnen des Altertums, der frühen Neuzeit, von der Pharaonin Hatschepsut bis zu Elisabeth I. – hatten die es leichter?
Van Schaik: Die haben nichts mit den heutigen Top-Frauen zu tun. Merkel oder Harris verdanken ihren Aufstieg eigener Leistung, die wenigen Herrscherinnen in der Geschichte haben es nur über einen mächtigen Vater oder Ehemann an die Spitze geschafft. Merkel und Co. – das ist ein völlig neues Phänomen.
SPIEGEL: Die Wissenschaft hat sich über die Jahrhunderte viel Mühe gegeben zu beweisen, dass Frauen aus biologischen Gründen dem Manne unterlegen seien. Selbst Charles Darwin ließ sich darüber aus, dass die Evolution der Frau an irgendeinem Punkt stehen geblieben sei ...
Van Schaik: (seufzt) Mein Idol, ich weiß, er war Teil dieser Herabwürdigung. Ebenso Sigmund Freud, später weitere eminente Biologen, und wahrscheinlich findet man heute noch den ein oder anderen, der solchen Unsinn verzapft.
SPIEGEL: Sie präsentieren uns jetzt »Die Wahrheit über Eva«, eine Natur- und Kulturgeschichte des Patriarchats, die Sie zusammen mit einem männlichen Co-Autor geschrieben haben. Ist Ihr Blick auf den weiblichen Homo sapiens frei von Vorurteilen?
Van Schaik: Das schafft natürlich niemand wirklich! Aber das Gute an der Wissenschaft ist ja, dass man seine Ergebnisse zur Diskussion stellt, sie können widerlegt werden. Ohnehin ist es ein Buch über das Verhältnis der Geschlechter, also geht es genauso um Männer. Es ist gewissermaßen eine andere Menschheitsgeschichte.
SPIEGEL: Der Intellektuelle Yuval Noah Harari spekuliert, dass »überlegene Sozialkompetenz und größere Kooperationsbereitschaft« den Mann zur Erfolgsstory gemacht haben. Verstehen Sie, dass viele Frauen da mit den Augen rollen?
Van Schaik: Wir doch auch! Beide Geschlechter sind extrem kooperativ, das zeichnet uns als Menschen gerade aus. Trotzdem, bloß weil ein Thema uns irgendwie unangenehm ist, können wir doch nicht die Forschung dazu einstellen. Die Alternative zu schlechter Wissenschaft ist bessere Wissenschaft und nicht: keine Wissenschaft.
SPIEGEL: Nein, aber vielleicht sollten wir unterscheiden zwischen wilden Theorien und gut belegten Fakten?
Van Schaik: Selbstverständlich, aber das ist manchmal leichter gesagt als getan, denn wir alle lieben einfache Erklärungen. Wir mögen es monokausal und binär. Und natürlich gibt es biologisch verankerte Eigenschaften, die bei den beiden Geschlechtern unterschiedlich ausgeprägt sind. Im Durchschnitt, wohlgemerkt.
SPIEGEL: Aber ...
Van Schaik: ... Ich weiß schon, wenn man einmal festgestellt hat, dass es solche Unterschiede gibt, drängen sich sofort ganz viele Aber auf, allen voran die Frage: Kann die Biologie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben? Die Antwort ist einfach: nein.
SPIEGEL: Die biologische Verfasstheit von Frau und Mann ist aber auch immer politisch, wenn etwa eine AfD-Politikerin sagt, Frauen seien die »Hüterinnen des Feuers« und man könne »unsere Biologie nicht einfach ablehnen«. Da wird die Steinzeitfrau retrospektiv an die Kochstelle verbannt, weil man begründen will, dass ihre Nachfahrinnen heute noch zu Recht dort anzutreffen seien.
Van Schaik: Sie meinen Ideen wie die, dass Steinzeit-Machos ihre Frauen an den Haaren in die Höhle schleppen? Es ist kurios, wie langlebig solche Bilder sind. Das Problem ist, dass sie letztlich über Geschichtsbücher vermittelt wurden. Und die haben, weil Schrift unter patriarchalen Umständen entstanden ist, die längste Zeit nur Männer geschrieben. Meine Perspektive als Anthropologe ist eine andere. Da nimmt diese Phase, in der Frauen unterdrückt werden, nur ein bis zwei Prozent der gesamten Entwicklung des Homo sapiens ein. Das Patriarchat ist eine Anomalie in der Menschheitsgeschichte.
SPIEGEL: Ach ja?
Van Schaik: Hätten wir unser Buch vor 10 000 Jahren geschrieben, wäre es wahrscheinlich um die armen Männer gegangen, die nichts mehr zu tun hatten. Das war zu der Zeit, als die Menschen begannen, einfache Landwirtschaft zu betreiben. Damals entstanden matrilineare Hackbaukulturen. Die Frauen bearbeiteten das Land in Gemeinbesitz und hatten somit großen sozialen Einfluss – und die Männer nichts mehr zu jagen. Das Wild um diese kleinen Weiler herum war früher oder später ausgerottet. Wahrscheinlich hockten die Kerle herum und trauerten um ihre glorreiche Vergangenheit als Jäger.
SPIEGEL: Noch einen Schritt zurück, bitte. Vor dieser Zeit, bei den Jägern und Sammlern, gab es ihn, den speerbewehrten Mammutjäger mit der Frau, die daheim die Felle schabt?
Van Schaik: Nein, das ist und bleibt ein Zerrbild. Es stimmt, Großwild wurde hauptsächlich von Männern erlegt. Frauen waren aber genauso unterwegs und haben erheblich zur Versorgung beigetragen, wenn auch eher mit Knollen, Früchten und Kleinwild.
SPIEGEL: Kürzlich haben Archäologen vermeldet, dass sie in den Anden in einem 9000 Jahre alten Grab eine Großwildjägerin gefunden haben. Ändert das Ihren Blick?
Van Schaik: Nein, weil es ja immer noch ins Bild passt. Niemand sagt doch, dass es Frauen nicht möglich war zu jagen! Was wir Wissenschaftler beschreiben, ist ein ganzes Spektrum an Kooperation; nur über deren Extreme – den heldenhaften Mammutkiller, die vorsichtige Beerensammlerin – zu sprechen, führt zu diesen Klischees. Dazwischen liegen jede Menge Tätigkeiten, die in Jäger-Sammler-Gemeinschaften von beiden Geschlechtern erledigt wurden. Das Erfolgsgeheimnis des Menschen liegt in seiner einzigartigen Fähigkeit zum Teamwork.
SPIEGEL: Jenseits der Großwildjagd wurde kleinere Beute in Netze gehetzt – auch dies war Teamwork beider Geschlechter.
Van Schaik: Genau das ist doch interessant. Es waren die ökologischen Bedingungen vor Ort, die den Ausschlag dafür gaben, wie zusammengearbeitet, wie gelebt wurde. Und diese Jägerin aus den Anden zeigt, wie flexibel diese Systeme sind. Es gibt keine natürliche Bestimmung, die über unsere Art zu leben entscheidet. Wir sind nicht gefangen in der Biologie! Oft ist die Kultur viel einengender.
SPIEGEL: Was ist mit Körpergröße und Muskelkraft? Auch werfen können Männer besser. Was sagen diese Geschlechtsunterschiede über die Dominanz des Mannes?
Van Schaik: Eher wenig. Dazu muss man sich nur bei unserer tierischen Verwandtschaft umschauen. Da gibt es Arten, Bonobos beispielsweise, die in Gruppen leben wie wir. Die Männchen sind deutlich größer als die Weibchen – aber die Weibchen dominieren trotzdem die Gemeinschaft. Sie haben nämlich einen versteckten Eisprung, übrigens wie bei uns Menschen. Die Männchen wissen also nicht, wann sie jeweils empfänglich sind. Das Männchen ist, wenn es den richtigen Moment zur Begattung nicht verpassen will, angewiesen auf ein gewisses Entgegenkommen des Weibchens – und auf dessen Vorlieben. Und wenn da ein Männchen zu frech wird, tun sich die Weibchen zusammen und verprügeln den Übeltäter. Es kann sogar sein, dass unsere Vorfahren so ähnlich getickt haben. Das sehen wir in der Ethnologie auch bei noch existierenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Da können die Männer die Frauen nicht einfach dominieren. Und schon gar nicht mit Gewalt, das erlauben diese Gruppen nicht.
SPIEGEL: Mindestens das Kümmern um die Kinder habe die Natur der Frau aufgetragen, sagen Biologisten; und tatsächlich interessieren sich kleine Mädchen eher für Puppen, Jungs für Bagger. Wie erklären Sie das?
Van Schaik: Wenn wir jetzt über Bonobos oder Orang-Utans reden würden, würde ich zustimmen. Aber das ist bei uns Menschen ganz anders. Wir betreiben »Cooperative Breeding«, die gemeinschaftliche Jungenaufzucht. Hier haben Sie es wieder, das Erfolgsrezept des Homo sapiens: Teamwork. Nicht umsonst gibt es bei uns Großmütter, also Frauen, die sich nicht mehr selbst fortpflanzen; das ist eine große Seltenheit im Tierreich und evolutionär nicht einfach zu verstehen. Es ist gut belegt, dass diese älteren Frauen sich in der Regel intensiv um die Enkel kümmern.
SPIEGEL: Und die Väter sind raus?
Van Schaik: Nein. Auch Männer waren immer bei der Ernährung und Erziehung der Kinder dabei; sie sind biologisch dazu veranlagt. Beispielsweise reagieren sie mit hormonellen Veränderungen, sobald ein Kind geboren wird. Das kenne ich übrigens von mir selbst. Ich habe jetzt eine kleine Enkelin, und ich bin ... wie sagt man auf Deutsch?
SPIEGEL: Völlig vernarrt in das Kind?
Van Schaik: Genau! Aber noch mal objektiver: Es gibt sehr gute Erkenntnisse über Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und über matrilineare Hackbaugesellschaften. Da kann man sehen, dass alle in der Community beteiligt sind. Der Spruch ist ein bisschen überstrapaziert, aber er stimmt: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Die Mutter ist am Anfang vielleicht die Hälfte der Zeit in direktem Kontakt mit dem Kind. Aber die andere Hälfte oder sogar mehr steuern andere bei.
SPIEGEL: Das ist heute eher nicht mehr so.
Van Schaik: Weil wir dieses System spätestens mit der Industrialisierung kaputt gemacht haben. Wir haben die Großfamilie zerstört und das Prinzip der Neolokalität erfunden: dass alle irgendwo anders wohnen, nur nicht an dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Wenn dann der Mann zur Arbeit geht, wie sich das bei uns historisch entwickelt hat, muss plötzlich die Mutter ohne jegliche Hilfe mit den Kindern zu Hause bleiben. Aber diese spezielle Arbeitsteilung ist weder gott- noch naturgegeben, auch wenn Religion und Wissenschaft allzu lange Frauen auf Mutterschaft reduziert haben.
SPIEGEL: Den Mutterinstinkt gebe es gar nicht und wenn, sei er nicht angeboren, schrieb die berühmte Evolutionsbiologin Sarah Blaffer Hrdy. Sehen Sie das auch so?
Van Schaik: Natürlich. Wir beobachten das hier in Zürich bei unseren kleinen Krallenaffen, die, wie wir, ihre Jungen gemeinsam aufziehen. Wenn ihnen niemand hilft, kümmern sich die Mütter nicht länger um die Jungtiere, sie lassen sie sterben oder fressen sie sogar. Bei uns Menschen zeigen Babyklappen, dass sich Mütter von ihren Kindern trennen können, wenn sie glauben, nicht genügend Hilfe zu haben.
SPIEGEL: Noch ein Stereotyp: Testosteron. Ist es dieses Hormon, das Männer zu Männern macht?
Van Schaik: Durchaus. Aber ich warne vor Vereinfachungen. Klar, dieses Hormon geht hoch in Konflikten, insbesondere wenn einer gewinnt.
SPIEGEL: Bei Männern und Frauen.
Van Schaik: Ja, das Hormon hat Effekte, aber es gibt gleichzeitig viele andere Einflüsse.
SPIEGEL: Selten heiratet die Chefärztin den Krankenpfleger, Männer haben umgekehrt kein Problem mit einer Partnerin mit Job weiter unten auf der Karriereleiter. Führen Sie das auch auf altes Erbe zurück? Das Weib begehrt den besten Jäger, der ordentlich Mammutfleisch mit nach Hause bringt?
Van Schaik: Es mag sein, dass solche alten Präferenzen immer noch in den Köpfen herumgeistern. Wenn ich eine Frau wäre und in einer Machogesellschaft lebte, würde ich einen starken Beschützer präferieren. Wenn ich aber heute lebte, sagen wir, als Architektin in Zürich, in einer Gesellschaft mit Recht und Gesetz, ist das nicht mehr wichtig. Entsprechend veränderbar sind die Partnerpräferenzen.
SPIEGEL: Die Zürcher Architektin hat kein Problem, sich mit einem Tischler zusammenzutun?
Van Schaik: Wenn er talentiert ist ...
SPIEGEL: Bei Jägern und Sammlern wie den Canela im Nordosten Brasiliens war es comme il faut, dass eine Frau mit mehreren Männern schläft, die dann auch alle als Väter des neun Monate danach geborenen Kindes gelten. Wie promisk sind Frauen wirklich?
Van Schaik: Ja, das war aus Sicht der Mutter ein sehr verantwortungsvolles Verhalten, weil diese geteilte Vaterschaft dazu beitrug, dass Infantizide verhindert wurden – alle Väter, auch die nur scheinbaren, sind gut zum Kind. Ansonsten ist es sehr schwer zu sagen, wie monogam wir als Spezies sind. Wir machen ja etwas, das die meisten anderen monogamen Arten nicht tun: Wir paaren uns unablässig. Fast wie die Bonobos. Und in unserer urzeitlichen Vergangenheit waren wir wahrscheinlich sehr promisk – heute sind wir es kaum noch, in den meisten Teilen der Gesellschaft jedenfalls.
SPIEGEL: Die Biologie ist also nicht schuld am Patriarchat?
Van Schaik: Wenn sie es wäre, hätte es das Patriarchat ja immer schon gegeben. Wir sind eben, anders als unsere äffischen Verwandten, durch und durch kulturelle Wesen, die eine kulturelle Evolution durchlaufen haben, die über die Jahrhunderttausende viel wichtiger geworden ist als die biologische Evolution. Die Kultur ist unsere erfolgreichste Anpassung an eine sich ständig verändernde Umwelt.
SPIEGEL: Aber wenn alle so wunderbar egalitär zusammengearbeitet haben bei den Jägern und Sammlern und noch bei den ersten Ausflügen des Menschen in die Hackbaugesellschaften die Frauen das Sagen hatten – wie konnte da das Patriarchat überhaupt passieren?
Van Schaik: Es war sicher nicht einfach eine männliche Verschwörung! Als der Prozess zur immer intensiveren und produktiveren Landwirtschaft einsetzte, fing das Verhältnis der Geschlechter an, aus dem Gleichgewicht zu geraten.
SPIEGEL: Wie schnell ging das vonstatten?
Van Schaik: Wir sehen aus der Archäologie, dass allmählich dort, wo die Ernten immer besser wurden, Land und Vorräte Begehrlichkeiten bei anderen weckten. Es entstand Besitz, den man verteidigen musste. Und verteidigen, Kriege führen – das war Männersache.
SPIEGEL: Es gab nie weibliche Kämpfertrupps?
Van Schaik: Möglich, dass hier und da Frauen mitgemacht haben, aber im Schnitt war das Männersache. Doch zurück zur Frage, wieso jetzt die Männer anfingen zu dominieren. Dafür verantwortlich war die evolutionsgeschichtlich neue Möglichkeit, Eigentum anzuhäufen und zu monopolisieren. Und das wollten sie ihren Söhnen weitergeben, die den Besitz verteidigen sollten. Die mussten darum jetzt zu Hause bleiben. Früher waren sie es gewesen, die die Gemeinschaft verließen, weil es galt, Inzucht zu vermeiden. Nun aber mussten die Mädchen gehen. Und an den neuen Orten waren sie die Fremden, sie hatten keine Verwandten mehr, keine Netzwerke. Und wurden zu Babymaschinen, die männliche Erben produzieren mussten.
SPIEGEL: Da war dann aber Schluss mit dem Frust der armen arbeitslosen Jäger.
Van Schaik: Na ja, die meisten Männer waren ja selbst Verlierer dieser Entwicklung: alle, die nicht zu den Wohlhabenden, den Profiteuren gehörten. Und diese Umwälzung vollzog sich nicht von heute auf morgen. Wenn Sie nach Çatalhöyük schauen, diese riesige, puebloartige Siedlung aus der Jungsteinzeit in Anatolien, da hatten die Familien Speicher in ihren Wohnhäusern. Aber offenbar hatten sie alle gleich große Häuser und gleich große Speicher und waren gleich gut ernährt. Also, es hat schon eine Weile gedauert, bis diese Männer die Idee von Privatbesitz auch auf Bereiche wie Land und Vieh ausdehnten ...
SPIEGEL: ... und auf Frauen.
Van Schaik: Und bis die Männer kapiert hatten, dass sie sich jetzt aufspielen dürfen als Pascha, anstatt Ansehen zu gewinnen durch Großzügigkeit. Ich meine, ein Jäger-Sammler, der gesagt hätte, er sei jetzt der Chef, wäre ausgelacht worden! Es brauchte mehrere Tausend Jahre, bevor soziale Ungleichheit despotische Ausmaße annahm. Und Frauen oft zur Handelsware wurden. Oder sogar geraubt werden konnten.
SPIEGEL: Wir sind jetzt auf der Zeitleiste irgendwo zwischen 3000 oder 4000 Jahren vor Christus?
Van Schaik: Ja, so ungefähr.
SPIEGEL: Und dann kamen die monotheistischen Religionen dazu. War mit der Urfrau, dem Vorbild für die biblische Eva, noch das glückliche Weib gemeint, das egalitär mit Adam in einer Art prähistorischen Garten Eden Hackbau betrieb und in Netzen Kleinwild fing? Oder war sie schon die unterdrückte Frau?
Van Schaik: Das Lustige ist ja, dass es zwei Schöpfungsberichte gibt. In dem ersten sind Eva und Adam noch zeitgleich und gleich geschaffen, im zweiten entsteht die Frau aus der Rippe des Mannes – und wird ihm nach dem Sündenfall untertan gemacht. Im Ernst, das Problem war doch, dass alle Geschichten für Eva nur ungut ausgehen konnten, nachdem das Patriarchat schon über Jahrtausende gefestigt war.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Van Schaik: Das war eine selbst erfüllende Prophezeiung. Wenn man Mädchen von Geburt an schlechter ernährt und ihnen kaum Bildung zuteilwerden lässt, muss man sich nicht wundern, dass sie dann als Erwachsene neben den Männern verblassen.
SPIEGEL: Wie groß schätzen Sie den Beitrag, den die Religion dazu geleistet hat?
Van Schaik: Sehr groß. Denn die trichterte allen Leuten von Kindesbeinen an die ultimative Rechtfertigung für die Schlechterstellung der Frau ein, indem sie sie als gottgewollt darstellte. Nun passten die Vorstellungen von Geschlechterrollen, einer Gesellschaftsordnung sowie von der angeblich richtigen Lebensweise perfekt zueinander und ergänzten sich. Und indem die Kirche später diese Texte als Wort Gottes heiligte, wurde das Patriarchat unantastbar und über alle Zweifel erhaben.
SPIEGEL: Wann ist denn Schluss damit?
Van Schaik: Pfeift das Patriarchat bei uns nicht schon aus dem letzten Loch? Meine Tochter und mein Sohn haben die Welt bereits ganz anders wahrgenommen als wir, und meine Enkelin wird nicht einmal mehr die Misogynie eines Donald Trump erleben. Das Zauberwort heißt Bildung. In Demokratien geht es schneller als anderswo, auch dort, wo Menschen die Autorität patriarchal geprägter Religionen in Sachen Geschlechterrollen nicht mehr anerkennen.
SPIEGEL: Dann wäre auch die Wahl einer Vizepräsidentin in den USA nicht mehr der Rede wert?
Van Schaik: (lacht) Genau, und es würden mehr Staaten von Frauen gelenkt, mehr Frauen wären an politischen Entscheidungen beteiligt. Ich erwarte, dass das besser sein wird für die Umwelt und das Klima, das soziale Miteinander und, ja, auch die Bekämpfung von Pandemien.
SPIEGEL: Herr Professor van Schaik, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
** Carel van Schaik, Kai Michel: »Die Wahrheit über Eva – Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern«. Rowohlt; 704 Seiten; 26 Euro.
Das Gespräch führte die Redakteurin Rafaela von Bredow.
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