Aus: Schneidewind, Uwe. Die Große Transformation: Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels (German Edition) (S.8). FISCHER E-Books. Kindle-Version.
Kap.2 Nachhaltige Entwicklung als kulturelle Revolution
Im Kern handelt es sich bei der Idee Nachhaltiger Entwicklung um ein kulturelles Projekt. Nachhaltige Entwicklung beschreibt einen weiteren Schritt in der Entwicklung menschlicher Zivilisation hin zu einer Welt, in der die Würde und die Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen überall auf dieser Welt heute und in Zukunft Kompass für gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Handeln sind. Philosophen wie Kwame Anthony Appiah oder Steven Pinker sensibilisieren dafür, dass in der Menschheitsgeschichte solch moralisch-zivilisatorischer Fortschritt immer wieder stattgefunden hat und daher auch die Hoffnung besteht, dass die Idee einer Nachhaltigen Entwicklung keine Utopie bleiben muss.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit in einem Epochenumbruch. Durch ihre ökonomischen Aktivitäten ist sie erstmalig in der Menschheitsgeschichte in der Lage, globale geoökologische Prozesse selbst zu beeinflussen. Aktuell droht sie dabei eine Reihe von »planetaren Grenzen« zu überschreiten, deren Einhaltung eine zentrale Grundlage für die menschliche Entwicklung in der bisherigen Erdgeschichtsphase waren. Erdgeschichtsforscher bezeichnen die neue Epoche deswegen auch als »Anthropozän«, d.h. das vom Menschen getriebene Erdzeitalter. Der menschlich beeinflusste Klimawandel, die Übersäuerung der Ozeane, der massive Abbau der Biodiversität oder das flächendeckende Einbringen von Kunststoffen und anderen Chemikalien in die Ökosysteme sind Ausdruck der naturzerstörenden Produktions- und Lebensformen der Menschheit. Aus dieser Wirkmacht leitet sich eine neue Dimension der Verantwortung im Umgang mit planetaren Grenzen ab.
Die Diskussionen über den Klimawandel und eine Nachhaltige Entwicklung spiegeln den Umgang mit dieser Verantwortung.
Ungebrochene globale Entwicklungstrends
Über die letzten 25 Jahre wissenschaftlicher, technologischer und ökonomischer Entwicklung sind die Lösungsbausteine entstanden, um mit der neuen Verantwortung umzugehen: Teil B des Buches wird zeigen, wie sich die globale Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien gestalten lässt, wie eine CO2-neutrale Mobilität aussehen kann, wie sich die meisten Produkte und Stoffe im Kreislauf führen lassen, wie Passivenergiehäuser gebaut werden müssen, wie eine Welternährung für zehn Milliarden Menschen möglich wird, die die ökologischen Bedingungen des Planeten einhält. All diese Lösungen bestehen in der Regel aus einer Kombination von technologischen Innovationen, Strategien der Effizienzsteigerung und einer Anpassung und Weiterentwicklung unserer Lebensstile.
Nimmt man den Club-of-Rome-Bericht zu den Grenzen des Wachstums aus dem Jahr 1972 als ersten Warnruf, so kann man sagen: Seit knapp 50 Jahren sind die besonderen Herausforderungen des Anthropozäns bekannt, hat sich die Weltgemeinschaft dieser Herausforderung spätestens vor gut 25 Jahren auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 vergewissert und verfügt die Menschheit faktisch auch seit dieser Zeit über die wichtigsten Lösungsbausteine zum Umgang mit den Herausforderungen. Dennoch verlaufen die globalen Entwicklungsprozesse weiterhin mehr als schleppend. Nicht nur von der Einhaltung der klimatisch notwendigen CO2-Ziele ist man weit entfernt. Selbst der Umbau zu einer regenerativen Stromversorgung passiert in den meisten Ländern nur zögerlich: Die Beharrungskräfte und die Bedeutung fossiler Energieträger sind auch in diesem Sektor weiter stark. Die Einführung einer CO2-freien Mobilität steht erst ganz am Anfang. In den Ernährungsmustern diffundiert der fleisch- und damit CO2-intensive Ernährungsstil der westlichen Industriestaaten in die neuen Mittelschichten vor allem (Süd-)Ostasiens. Die Kreislaufquoten in den meisten Branchen- und Produktsegmenten sind äußerst gering. Wie kann diese Beharrung überwunden werden? Genau hier setzt das an, was wir im Folgenden als »Zukunftskunst« entwickeln werden: Es bedarf eines Verständnisses des Charakters, der Verläufe und der Rhythmik solcher komplexen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, mit denen die Weltgemeinschaft derzeit konfrontiert ist. Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich bei den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen um eine »moralische Revolution« (Appiah, 2011) handelt.
Das heißt: Bei den aktuellen Veränderungen geht es nicht einfach nur um einen Erkenntnisprozess, sondern um eine fundamentale Erweiterung und institutionelle Verankerung eines neuen Wertegefüges in der Weltgemeinschaft und darauf basierend um eine Veränderung des moralischen Verhaltens. Hinter der Idee einer Nachhaltigen Entwicklung steckt ein umfassendes Zivilisationsprojekt. In den Worten von Bruno Latour ließe sich formulieren: »Gemeinsam müssen wir ein Territorium finden, das für uns alle bewohnbar ist. Darin liegt die neue Universalität.« (Latour, 2017, S. 138) Das ist auch der Grund, warum der WBGU in seinem 2011 erschienenen Hauptgutachten zur »Großen Transformation« von der Notwendigkeit eines »neuen Gesellschaftsvertrages« (WBGU, 2011) spricht.
Um zu verstehen, wie solche fundamentalen Zivilisationsprojekte verlaufen, hilft ein historischer Blick, denn es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die Menschheit solche moralischen Revolutionen durchläuft: Die Einführung der Demokratie, die Abschaffung der Sklaverei oder die Einführung des Frauenwahlrechtes sind Ausdruck für die Durchsetzung erweiterter Zivilisationsstandards – getragen von einem Humanismus, wie er sich am prominentesten in der UN-Menschenrechtscharta manifestiert.
Fünf Phasen moralischer Revolutionen
Der Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah hat zum Verlauf von moralischen Revolutionen eine eindrucksvolle Analyse vorgelegt. Er hat dazu die Entwicklung moralischer Revolutionen wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Einführung des Frauenwahlrechtes näher betrachtet. Bei all diesen moralischen Revolutionen zeigt sich, dass sie entscheidende Eigenschaften gemeinsam hatten und einen Ablauf entlang von fünf Phasen beschreiben (Appiah, 2011).
Phase I: Ignoranz – Problem wird nicht gesehen
Diese Phase erklärt die tiefe Verwurzelung einer Tradition oder Praktik wie die der modernen Sklaverei, die mit einem Normkodex einhergeht, der von der gesellschaftlichen Mehrheit nicht in Frage gestellt wird. Moralische Argumente gegen die herrschenden Praktiken sind jedoch bereits weithin bekannt. So mussten sich Menschen in keiner der vorherigen moralischen Revolutionen komplett neuen moralischen Argumenten beugen.
Phase II: Anerkennung, aber kein persönlicher Bezug
Für Appiah spielt in allen großen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen die »Ehre« eine wichtige Rolle. Mit der zweiten Phase verweist Appiah auf Veränderungen im herrschenden Verständnis von Ehre. Diese Veränderungen stellen eine etablierte Praktik als schlecht und gar verwerflich dar, und die Gefahr für die Anerkennung und Stabilität des geltenden Regelwerks wird erkannt. So spielten zum Beispiel aufkommende Vorstellungen von nationaler Ehre und der Ehre arbeitender Menschen eine wichtige Rolle bei der Abschaffung der modernen Sklaverei. Dennoch setzt sich die Praktik in dieser Phase erst einmal weiter fort.
Phase III: Anerkennung des persönlichen Bezuges, aber Nennung von Gründen, warum kein Handeln möglich ist
Die soziale Identität, die Identifikation mit Familien, ethnischen Gruppen, Religionen und Nationen verbindet uns in Stolz oder Scham mit anderen Menschen. Identität verbindet moralische Revolutionen demnach mit einem Aspekt der menschlichen Psychologie; der tiefen und beständigen Sorge um Status und Respekt bzw. unser menschliches Bedürfnis nach Anerkennung. So bezogen Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei einen Teil ihrer Energie aus dem Streben nach Anerkennung. Diese Phase beschreibt Verhaltensänderungen von Teilen der Bevölkerung, da man anfängt, sich für alte Praktiken zu schämen, und diese verachtet. Es entstehen immer mehr widerständische Praktiken wie Boykotte oder Versammlungen und Auflehnungen, die neue Möglichkeiten aufzeigen und attraktiv machen.
Phase IV: Handeln
Erst in der vierten Phase jedoch geschieht die revolutionäre Wandlung. Träger des alten Normsystems verlieren ihre zentrale Stellung im öffentlichen Leben, und Gesellschaften bringen Regelwerke hervor, die den neuen Verhaltens- und Gefühlsmustern zugrunde liegen.
Phase V: Im Rückblick: Unverständnis, dass die alte Praxis je bestehen konnte
Die letzte Phase einer moralischen Revolution zeigt sich schließlich darin, dass Menschen nicht nur alte Praktiken für falsch und neue für richtig erklären, sondern sie erkennen auch, dass die alten Praktiken etwas Schändliches an sich hatten. So schreibt Appiah: »Im Rückblick und selbst über eine Zeitspanne von einer einzigen Generation fragen die Menschen sich: »Was haben wir da nur gedacht? Wie konnten wir das all die Jahre tun?« (Appiah, 2011, S. 9) Appiah macht deutlich, dass die Prozesse, die in moralische Revolutionen münden, keine zügig und reibungslos verlaufenden Prozesse sind. Sie erstrecken sich über lange Zeiträume, sie erleben Widerstände und Rückschläge. Sie bedürfen engagierter Vorreiter, neuer Lösungsansätze und einer institutionellen Verfestigung. Aber insgesamt machen die Ergebnisse Appiahs Mut: Sie zeigen, dass es so etwas wie das Fortschreiten moralischer Entwicklungen gibt.
Kap.4 Drei Transformationsschulen und die Macht der Ideen
Drei Transformationsschulen und die Macht der Ideen Kann eine Große Transformation gelingen, die von einer Zivilisationsidee inspiriert ist? Wer oder was treibt eigentlich umfassende gesellschaftliche Veränderungen? Das ist eine Kernfrage sozialwissenschaftlicher Forschung. In der Geschichte der Sozialwissenschaften sind dazu viele »Schulen« mit unterschiedlichen Antwortbausteinen entstanden. Drei Schulen haben eine besondere Bedeutung: (1) Idealisten, (2) Institutionalisten und (3) Inventionisten.
Alle drei Schulen finden sich prominent in der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte. Je genauer man ihr Zusammenspiel versteht, desto besser lassen sich die Ansatzpunkte identifizieren, mit denen sich die moralische Revolution einer Nachhaltigen Entwicklung befördern lässt.[3]
Idealisten: Ideen verändern die Welt
Der gern zitierte Satz von Victor Hugo: »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«, kann als Leitorientierung der idealistischen Schule dienen. Sie vertraut auf die Kraft der Ideen bei gesellschaftlichen Veränderungen.
Aufklärung, Freiheit, Solidarität: Es sind die grundlegenden humanistischen Ideen, die sich in der gesellschaftlichen Entwicklung letztlich Bahn brechen. Man mag sie über längere Zeiträume, z.B. durch autoritäre Regime, unterdrücken, letztlich bleiben sie aber der zentrale Antrieb gesellschaftlicher Entwicklung. Nur so ist zu erklären, dass heute trotz aller Herausforderungen so viele Menschen wie nie zuvor in individueller Freiheit und Wohlstand leben.
Aus einer idealistischen Sicht heraus stellt das Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung, d.h. der gleichen Entwicklungschancen für jeden Menschen auf diesem Planeten heute genauso wie in Zukunft, die nächste Stufe dieser humanistischen Fortentwicklung dar. Die Große Transformation schöpft daher aus dem Werben für diese Ziele und deren Mobilisierung ihre Überzeugungskraft. Die Herausforderung besteht darin, globale Gerechtigkeitsvorstellungen und Verantwortung zu kultivieren, um einem nächsten zivilisatorischen Entwicklungsschritt zum Durchbruch zu verhelfen. Die ökologische Bewegung der letzten 30 Jahre war von diesem Idealismus getragen und damit äußerst erfolgreich. Umwelt und Nachhaltige Entwicklung gehören heute zum selbstverständlichen Wertekanon vieler Gesellschaften und sind inzwischen fester Bestandteil der Programme aller demokratisch orientierten politischen Parteien Deutschlands.
Trotz dieser Erfolge stagniert aber die politische Umsetzung, werden andere politische Anliegen gegenüber den moralisch hochstehenden Prinzipien einer Nachhaltigen Entwicklung priorisiert. Es zeigt sich daher, dass Idealismus alleine für eine Große Transformation nicht ausreichend erscheint.
Institutionalisten: Menschlicher Fortschritt passiert durch Institutionenentwicklung
Hier kommen die Institutionalisten ins Spiel. Sie streiten die Bedeutung von Ideen und die Möglichkeit für Idealismus nicht ab. Sie halten es aber für naiv, alleine auf die Kraft von Ideen zu setzen. Sie haben einen nüchternen Blick auf das Wesen des Menschen. Auch noch so viele Ideale ändern nichts daran, dass das tägliche Handeln von sehr viel kurzfristigeren Nutzeninteressen und von Routinen geprägt ist. Das gilt für uns als Konsumenten genauso wie als Arbeitnehmerinnen, Manager, Politikerinnen, Journalisten oder Wissenschaftlerinnen. Zivilisiert werden wir nicht alleine aus einer inneren idealistischen Kraft heraus, sondern letztlich nur durch Regeln, die wir uns als Gesellschaft geben. Sie gewährleisten, dass wir als Individuen ausreichend Anreize verspüren, uns nach übergeordneten Prinzipien zu verhalten. Institutionen unterstützen mithin unser zivilisatorisches Lernen und bringen Interessenkonflikte mit anderen Motivationen zu einem Ausgleich.
Zukunftskunst umfasst daher auch, humanistische Ideale wie diejenigen einer Nachhaltigen Entwicklung in verbindliche institutionalisierte Regelsysteme zu übersetzen. Die globalen Klimaverhandlungen versuchen genau das. Sie suchen nach Lösungen, um trotz der Eigeninteressen von Nationen, Branchen und Bürgern zu Regelsystemen zu kommen, die eine klimagerechte Welt ermöglichen.
Aus institutioneller Sicht gilt es, sich dabei insbesondere mit dem Institutionensystem auseinanderzusetzen, das der stärkste Garant moderner Wohlstandsgesellschaften in den letzten Jahrzehnten war, aber zugleich einer der Motoren vieler der aktuell zu beobachtenden globalen Umweltveränderungen ist: die bestehende internationale Wirtschaftsordnung, die auf das Primat von Freihandel und internationalem Wettbewerb setzt (Minsch, Feindt, Meister, Schneidewind & Schulz, 1998). Die Herausforderung Nachhaltiger Entwicklung bedeutet daher insbesondere eine institutionelle Weiterentwicklung auch unseres Wirtschaftssystems. Das ist der Grund, warum wir uns in Kapitel 6 mit der Weiterentwicklung des modernen Kapitalismus auseinandersetzen.
Die Institutionenforschung zeigt, dass Institutionen gerade in Umbruchphasen viererlei leisten müssen (vgl. Abb. 4.1): Sie müssen »Reflexivität« erhöhen, d.h. das Wissen über Folgen der aktuellen Handlungsmuster, sie müssen »Machtausgleich« gewährleisten und damit sicherstellen, dass nicht bisher dominante Interessen Veränderungen weitgehend blockieren, sie müssen die »Selbstorganisation und Kooperation« von Akteuren steigern, um neue Lösungskoalitionen für die entstandenen Herausforderungen zu bilden, und sie müssen »Innovationen« fördern, d.h. neue technologische, aber auch institutionelle Lösungen, die Transformationsprozesse unterstützen. Abb. 4.1:Vier Anforderungen an Institutionen in nachhaltigen Transformationsprozessen. Quelle: Nach Schneidewind u.a., 1997, S. 185
Institutionen stabilisieren Idealismus auf einer gesellschaftlichen Ebene. Daher ist die Erosion etablierter Institutionen wie in den USA unter der Trump-Administration oder auch in einigen europäischen Staaten für eine Nachhaltige Entwicklung bedenklich. Mit ihrer Umgestaltung sind auch grundlegende Ideen wie Meinungs- und Redefreiheit oder Rechtsstaatlichkeit auf dem Rückzug.
Inventionisten: Veränderung passiert über neue Technologien und Infrastrukturen
Noch nüchterner sind Inventionisten. Der Begriff lehnt sich hier an das Wort »Invention« (»Erfindung«) an. Inventionisten erkennen zwar an, dass umfassende institutionelle Weiterentwicklungen für die Durchsetzung einer Nachhaltigen Entwicklung hilfreich wären. Der Blick auf die enttäuschende Dynamik in den globalen Klimaverhandlungen oder die nur bescheidenen realen Fortschritte in den Klimaschutzpolitiken vieler Länder nährt jedoch ihre Skepsis, dass solche institutionellen Veränderungen wirklich gelingen können. Gerade der 2017 angekündigte Ausstieg der USA aus dem Weltklimaabkommen verdeutlicht ihnen, wie schnell auch einmal erreichte Fortschritte zugunsten anderer – ökonomischer – Interessen wieder hinfällig werden können.
Für die Inventionisten gibt es daher nur eine Antwort auf die Herausforderung des Klimawandels: technologischer Fortschritt. Denn wenn man davon ausgeht, dass sich die Konsumpräferenzen und damit auch die Wachstumspolitiken weltweit nicht werden ändern lassen, dann kann die Lösung nur in einer Veränderung der technologischen Basis liegen. Wenn Energien regenerativ produziert werden, Menschen sich nur noch mit Elektroautos fortbewegen, in Passivhäusern wohnen und die Produktivität der Landwirtschaft durch Agrochemie massiv gesteigert wird, dann lässt sich die bestehende ökonomische Entwicklung – so die Hoffnungen der Inventionisten – mit ökologischen Zielen verbinden. Dieser Ansatz wird heute unter Begriffen wie »Grünes Wirtschaften« oder »Grünes Wachstum« verhandelt und dominiert die internationale politische Agenda über fast alle politischen Lager hinweg. Die seit 1992 in der Debatte stehende und durch die SDGs im Jahr 2015 bekräftigte Aufgabe, Entwicklungs- und Umweltagenda zusammenzubringen, soll durch ein ökonomisches Wachstum gelöst werden, das im Wesentlichen auf grünen Technologien beruht.
Auch wenn die empirischen Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass die ökologischen (Effizienz-)Effekte dieser inventionistischen Strategie (u.a. durch den Reboundeffekt, vgl. Kap. 5) durch ein überproportionales Wachstum überkompensiert werden, bleiben technologische Lösungen ein Ansatzpunkt in der Gestaltung der Großen Transformation. Dies gilt gerade im Hinblick auf die Potentiale der Digitalisierung, die mit ihren Möglichkeiten auch weit in die institutionelle Struktur unserer Wirtschaftsordnung eingreift.
Zum Zusammenspiel von Idealisten, Institutionalisten und Inventionisten
Schon in der Erläuterung der drei Transformationsschulen wurde deutlich, dass eine Große Transformation erst im Zusammenspiel aller drei Ansätze gelingen kann: Ohne die Kraft der Ideen werden auch keine entsprechenden Institutionen zu gestalten und weiterzuentwickeln sein. Technologische Optionen helfen, institutionelle Veränderungen leichter durchzusetzen, weil sie neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. So hat der technologische und ökonomische Durchbruch regenerativer Energien überhaupt erst dazu geführt, dass sich viele Länder auf Klimaziele eingelassen haben, die auf den Umbau ihrer fossilen Energiesysteme hinauslaufen.
Transformative Kräfte müssen sich mit bestehenden Interessen und sozialen und strukturellen Machtstrukturen auseinandersetzen, die der sozial-ökologischen Transformation im Weg stehen. Wandel hat daher immer auch etwas mit Macht zur Gestaltung zu tun. Lena Partzsch (2015) sensibilisiert dafür, dass in Transformationsprozessen drei Formen von Macht von zentraler Bedeutung sind: »Macht mit« (Power with), »Macht zu« (Power to) und »Macht über« (Power over). »Macht mit« bezeichnet die Macht, die dadurch entsteht, dass auch andere mobilisiert und mitgerissen werden und dadurch kraftvolle Bewegungen entstehen. Idealismus ist von der »Macht mit« getragen. Er nimmt andere mit und entwickelt dadurch Gestaltungskraft. »Macht zu« ist die Macht zur Gestaltung neuer Handlungsräume. Erfindungen und Technologien vermitteln die »Macht zu«. Sie eröffnen erweiterte Zukunftsräume. »Macht über« ist schließlich die klassische Form von Macht. Es ist z.B. die Macht von Regeln und Gesetzen und die Fähigkeit, sie durchzusetzen, um ein bestimmtes Handeln zu erzwingen. Institutionen schaffen den Rahmen für eine »Macht über«. Sie ist in politischen Prozessen auszuhandeln.
Kulturelle Revolutionen und das Zusammenspiel unterschiedlicher Transformationsebenen (Multi-Level-Perspektive)
S.52/53
…Ein zentrales Element dieses Ansatzes ist die sogenannte Multi-Level-Perspektive. Sie dient als strukturierende Heuristik zum Verständnis komplexer Veränderungsprozesse und unterscheidet drei grundlegende Ebenen von Systemübergängen…
(1) Die Nischen verkörpern »Inventionen« und Innovationen, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse auslösen.
(2) Das »Regime« steht für institutionelle Veränderungsprozesse, um Veränderungen langfristig zum Durchbruch zu verhelfen.
(3) Grundlegende gesellschaftliche Ideen und Mindsets sind ein zentraler Bestandteil der Landscape-Ebene.
Während das Transition-Management aus der Inventionisten-Perspektive Veränderungs-prozesse »von unten« über Nischeninnovationen und deren Diffusion zu verstehen sucht, nähert sich das vorliegende Buch dem Phänomen der Großen Transformation von der anderen Seite: Wenn der Wandel zu einer Nachhaltigen Entwicklung eine moralische Revolution beschreibt, dann sind die Umbrüche auf der Landscape-Ebene und damit u.a. grundlegender Mindsets zentral, um die Bedingungen für die Möglichkeit von Veränderungsprozessen zu schaffen. Erst dieser Mindshift bereitet den Boden dafür, dass viele einzelne Innovationsprozesse zum Katalysator für einen auch institutionellen Wandel werden.
Kap.5 Doppelte Entkopplung – Jenseits der »Grünen Ökonomie«
S.54-64
Die Idee der doppelten Entkopplung kombiniert technologische Öko-Innovationen mit einer Diskussion über neue Lebensstile und Wohlstandsmodelle. Sie zielt damit auf ein umfassenderes und systemisches Innovationsverständnis. Zentral ist dabei der Ansatz, zwei Arten der Entkopplung zu unterscheiden: 1. die »klassische« Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Umweltverbrauch durch zumeist technologische Innovationen und 2. die erweiterte Entkopplung von Lebensqualität und gutem Leben von klassischem Wirtschaftswachstum. In der intelligenten Kopplung beider Ansätze liegt das Potential, die Chance auf ein gutes Leben für zehn Milliarden Menschen innerhalb der planetaren Leitplanken zu bewahren.“
„Mit einem solch erweiterten Blick entstehen dann zwei Formen der Entkopplung: Eine »Entkopplung 1. Ordnung«, sozusagen die klassische Entkopplung. Sie kann über Öko-Effizienz und über »Konsistenz« passieren, d.h. über (regenerative) Energien oder im Kreislauf geführte Materialien. In beiden Fällen wird erreicht, dass ein Euro Bruttoinlandsprodukt mit weniger Ressourceneinsatz und Umweltfolgen erbracht wird. Diese Entkopplung alleine hat zwar dazu beigetragen, dass heute jeder Euro Bruttoinlandsprodukt viel ökoeffizienter als noch vor 20 Jahren produziert wird (die Energieproduktivität hat sich z.B. von 1990 bis 2015 um 50 % erhöht [Umweltbundesamt, 2016]). Sie hat aber nicht dazu beigetragen, dass die global relevanten Umweltbelastungen (wie die CO2-Emissionen) weder international noch national auch absolut zurückgegangen sind. Die Wachstumseffekte, die in der gleichen Zeit auftraten, haben die relativen Einsparungen (über)kompensiert (Deutscher Bundestag, 2013). Deswegen ist die Diskussion über die Entkopplung »2. Ordnung« so wichtig. Bei ihr geht es um die Entkopplung der Lebensqualität vom ökonomisch-materiellen Wachstum. Zentral sind also veränderte Lebensstile und Suffizienz. Genau darauf zielen neue Wohlstandsmodelle. Die Debatte über die Entkopplung 2. Ordnung hat in den letzten Jahren erheblich an Fahrt gewonnen (Deutscher Bundestag, 2013, S. 430). Kern ist dabei ein erweitertes Wohlstandsverständnis.
Auf dem Weg zu einem erweiterten Wohlstandsverständnis
Lange Zeit bedeutete ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt, dass es auch allen Menschen bessergeht. Materielles Wachstum war sozusagen gleichbedeutend mit einem steigenden Wohlstand in einem umfassend verstandenen Sinne. Gerade für Menschen in vielen wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern gilt dies auch heute noch. In vielen Volkswirtschaften tut sich aber spätestens seit der Jahrtausendwende eine größer werdende Schere zwischen materiellem Wachstum und gefühltem Wohlstand auf. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt – wenn auch moderat – weiter ansteigt, gilt dies nicht unbedingt für den Wohlstand und die subjektive Zufriedenheit im Land. Was sind die Gründe dafür? Es hängt einmal damit zusammen, dass vieles in das Bruttoinlandsprodukt einfließt, das nichts mit steigender Lebensqualität zu tun hat: Umweltschäden, die repariert werden müssen, Krankenhauskosten für Verkehrsunfälle oder der Umzug von Angehörigen aus der Pflege in der Familie in ein Altenheim: All das steigert das Bruttoinlandsprodukt, aber nicht unbedingt die Lebenszufriedenheit. Zum anderen sagt die absolute Höhe des Bruttoinlandsproduktes nichts über dessen Verteilung aus. Gerade in den letzten 20 Jahren ist das steigende Bruttoinlandsprodukt insbesondere bei den unteren Einkommensgruppen gar nicht angekommen (Boockmann u.a., 2015; Grabka & Goebel, 2017). Rechnet man die obengenannten Effekte heraus und versucht, einen Blick auf die Wohlstandsentwicklung zu gewinnen, dann wird deutlich, dass der effektive Wohlstand in Deutschland schon lange stagniert und z.T. sogar schrumpft, wie der Nationale Wohlfahrtsindex von Diefenbacher und Zieschank (Held, Rodenhäuser, Diefenbacher & Zieschank, 2018) zeigt. Es empfiehlt sich daher ein genauer Blick auf die Faktoren, die ein gutes Leben ermöglichen (vgl. u.a. auch Skidelsky & Skidelsky, 2012). Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der weltweit wichtigsten Industriestaaten, tut dies seit einigen Jahren. Basierend auf der aktuellen Wohlstandsforschung hat sie elf Faktoren identifiziert, die für eine hohe Lebensqualität von zentraler Bedeutung sind: Sie reichen von Gesundheit, Bildung, sozialer Einbettung, der persönlichen Sicherheit bis zur Art des Wohnens und der Höhe des Einkommens (vgl. Abb. 5.3). Interessant ist dabei, dass nur drei der Faktoren (Einkommen, Job/Verdienst sowie Wohnumgebung) unmittelbar mit dem materiellen Einkommen und damit letztlich auch der Höhe des Bruttoinlandsproduktes zusammenhängen.
Abb. 5.3: Die elf Dimensionen guten Lebens der OECD. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an OECD, 2013, S. 21
Die acht weiteren Größen werden viel stärker durch andere Faktoren beeinflusst: Die Qualität der Bildung und der Gesundheitsversorgung für alle hängt stärker vom jeweiligen Gesundheits- und Bildungssystem als vom Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ab: So produziert das US-amerikanische Gesundheits- und Bildungssystem zwar herausragende Leistungen in der Spitze, für die sozial Benachteiligten im Land ist die Qualität der Bildungs- und Gesundheitsversorgung jedoch schlechter als in einem Schwellenland wie Vietnam (Parandekar & Sedmik, 2016). Gleiches gilt für die individuelle Sicherheit oder die Möglichkeit des gesellschaftlichen Engagements als wichtige Faktoren der Lebenszufriedenheit. In Saudi-Arabien als einem der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt sind Bürgerrechte – gerade für Frauen – erheblich eingeschränkt. In vielen reichen Ländern gibt es »No-Go-Areas« in den Vorstädten großer Metropolen, die in inklusiveren Ländern mit z.T. geringerem Pro-Kopf- Bruttoinlandsprodukt nicht existieren. Für die Suche nach Wegen zu einer »doppelten Entkopplung« sind das wichtige Zusammenhänge. Sie zeigen auf, dass ein gutes Leben durchaus von einem immer weiter steigenden Bruttoinlandsprodukt entkoppelt werden kann. Eine Entkopplung 2. Ordnung ist möglich.
The Great Mindshift – Warum Wohlstand sich zuallererst in unseren Köpfen verändert
Das Sich-Einlassen auf neue Wohlstandsverständnisse fordert heraus. Es bedarf eines »Umparkens im Kopf«: Dass ein heutiges Auto künftig einen anderen Antrieb hat, das ist noch leicht vorstellbar. Dass man ganz auf ein eigenes Auto verzichtet und sich von einem von einer App gerufenen autonom fahrenden Fahrzeug zu seinem nächsten Arzttermin fahren lässt, erfordert dagegen eine größere Vorstellungskraft und Anpassungsbereitschaft. Und noch herausfordernder wird es, sich ein Mobilitätsmuster vorzustellen, in dem bisher mit dem Auto zurückgelegte Wege mit dem öffentlichen Nahverkehr oder einem Leihfahrrad erbracht werden. Was hier im Kleinen anschaulich wird, gilt auch im Großen: Eine Volkswirtschaft und eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte auf das Bruttoinlandsprodukt als Kompass für ihren Wohlstand programmiert war, stellt sich nicht einfach von heute auf morgen um. »Die Macht der einen Zahl« (Lepenies, 2013) hat moderne Gesellschaften tief in ihren Bann gezogen und prägt die politische Rhetorik – die vermeintlich nur auf weiteres materielles Wachstum zielen kann – genauso wie die Medienberichterstattung, die Börsenkurse im öffentlichen Fernsehen trotz eines nur geringen Anteils an Aktienbesitzern in der Bevölkerung vor jeden großen Abendnachrichten gesondert zeigt und kommentiert (Loske, 2015). Daher bedarf gerade die Idee einer Entkopplung 2. Ordnung eines erheblichen »Mindshifts« (Göpel, 2016), d.h. Veränderungen in unseren Köpfen. Solche Veränderungen brauchen Zeit, sind aber für große Transformationsprozesse fundamental. Das Kapitel 4 hat sich den Transformationsschulen näher gewidmet. Eine wichtige Rolle spielen dabei Wohlstandspioniere, die heute ausprobieren und zeigen, wie alternative Wohlstandsmodelle konkret aussehen. Sie sind sozusagen das Schmiermittel für den »Great Mindshift«. Sie werden uns im Teil C des Buches noch näher beschäftigen.
Fazit Doppelte Entkopplung ist der Kompass für eine Welt, die am Ende ein gutes Leben für zehn Milliarden Menschen innerhalb der planetaren Leitplanken ermöglichen kann. Die Kombination aus Effizienz und Suffizienz ist der Orientierungspunkt für die Gestaltung einer Großen Transformation. Wo eine solche Entkopplung durch das heutige Wirtschaftssystem behindert wird, damit beschäftigt sich das folgende Kapitel. Wie eine Wohlstands- und Konsumwende dennoch gelingen kann, ist Gegenstand von Kapitel 11.
10. Die 8-Tonnen-Gesellschaft – Den ökologischen Rucksack verkleinern
Warum der ökologische Rucksack der bessere ökologische Kompass ist
Im Jahr 2003 erließ die EU eine Richtlinie zur Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen im Verkehrssektor. Sie wurde 2006 auch in deutsches Recht umgesetzt. Hintergrund dieser Richtlinie waren klimapolitische Ziele: Durch einen wachsenden Anteil an Biosprit sollte die Klimabilanz des Verkehrssektors verbessert werden. Denn das CO2, das bei der Verbrennung eines Biokraftstoffes freigesetzt wird, absorbiert die der Biospritherstellung dienende Pflanze (z.B. Raps, Ölpalmen, Sonnenblumen) bei ihrem Wachstum aus der Atmosphäre. Biosprit versprach daher, ein wertvoller Klimabeitrag für unseren weitgehend auf fossilen Kraftstoffen beruhenden Verkehr zu sein.
Schon kurze Zeit später entbrannte eine massive Debatte über die Frage »Teller oder Tank?« und über die globalen ökologischen Folgen der EU-Regelung (UNEP, 2014a). Da die notwendigen Biospritmengen auf dem Markt kaum verfügbar waren, entstand ein hoher Anreiz für Landwirte, ihre Produktion auf Energiepflanzen umzustellen. Dies drängte in vielen Regionen – aufgrund der zu erzielenden höheren Renditen – die Produktion von Lebensmitteln zurück. Da die EU für die Erfüllung der Quoten zudem auf Importe von Biosprit angewiesen war, stellte sich noch ein anderer Effekt ein: Insbesondere in Südostasien beschleunigte sich die Rodung von Regenwäldern, um Palmölplantagen zur Befriedigung der europäischen Biospritnachfrage anzulegen. Spätestens hier wurde die EU-Initiative auch klimapolitisch fragwürdig: Um die Klimabilanz der europäischen Automobilflotte zu verbessern, wurden Regenwälder abgeholzt, die nicht nur der wichtigste Garant für Biodiversität auf der Erde sind, sondern selbst eine zentrale CO2-Senke in der Weltklimabilanz darstellten.
Unabhängig von der fragwürdigen CO2-Bilanz der Maßnahme zeigte sich ein Konflikt deutlich, den auch das Bild der planetaren Leitplanken von Rockström u.a. (vgl. Kap. 8) offenbart: Die unterschiedlichen ökologischen Dimensionen sind eng miteinander verknüpft, so dass sehr schnell Problemverschiebungen von einer Dimension in die andere drohen: Beim Biosprit wurde Klimaschutz durch die verschärfte Rodung von Regenwäldern mit erhöhten Verlust von Biodiversität erkauft. Die ursprünglichen EU-Regeln wurden nach heftigen Diskussionen ab 2012 auch wieder abgeschwächt (ILUC-Richtlinie, 2015).
Ähnliche Konflikte existieren aber auch bei anderen Umweltfragen: Rechtfertigen geringere CO2-Belastungen den Einsatz von Elektroautos, in deren Batterien seltene und nur mit hohem Aufwand zu gewinnende Rohstoffe wie Lithium oder Kobalt enthalten sind? Sollte man fast neuwertige Dieselautos und die darin enthaltenen Ressourcen verschrotten, um kurzfristig die Schadstoffbelastungen in Innenstädten zu reduzieren? Lassen sich die Materialien, die zur Dämmung und Energieeinsparung in Gebäuden eingesetzt werden, am Ende ihrer Lebenszeit ökologisch sinnvoll wiederverwenden oder rezyklieren? Hat man nur eine Umweltdimension im Blick, dann ist die Gefahr von ökologischen Problemverschiebungen groß. Es ist daher von zentraler Bedeutung, insgesamt den durch Menschen verursachen Druck auf die globalen Ökosysteme zu reduzieren. Dafür ist ein richtungssicherer Maßstab für die Abschätzung ökologischer Belastungen insgesamt notwendig. Die Suche nach solchen Indikatoren beschäftigt die Umweltdebatte seit den 1990er Jahren. Zwei Indikatoren haben sich dabei als besonders geeignet erwiesen:
(1) Das Konzept des ökologischen Fußabdruckes (Wackernagel & Rees, 1997), das alle ökologischen Belastungen in Flächenäquivalente umrechnet (vgl. Kasten). Mit ihm kann die globale Fläche berechnet werden, die z.B. ein Land benötigt, um seine heutige Wirtschaftsweise dauerhaft zu betreiben. Je stärker die globale Fläche die real vorhandene Fläche übersteigt, desto mehr lebt ein Land und seine Bürger auf »Kredit« anderer Länder bzw. künftiger Generationen.
Zum ökologischen Fußabdruck der Menschheit
Um benötigte Ressourcen von z.B. Produkten, Dienstleistungen oder Nationen zu ermitteln, wurden über die Jahre mehrere Indikatoren entwickelt, die die ökologischen Aspekte der Nachhaltigkeit möglichst umfassend abbilden. Anliegen dieser Berechnungen ist die Sensibilisierung für den umweltbezogenen Fußabdruck, den menschliche Aktivitäten auf der Erde hinterlassen. Als »Ecological Footprint« (Rees & Wackernagel, 1994) im engeren Sinne wird die Fläche auf der Erde verstanden, die notwendig ist, um den heutigen Lebensstil für alle Menschen zu gewährleisten. Dieser übersteigt die vorhandene Fläche unserer Erde meist um ein Mehrfaches. Der »Material Footprint« (Lettenmeier & Wuppertal Institut, 2009), auch »ökologischer Rucksack« (Schmidt-Bleek, 1994) genannt, beschreibt hingegen die Menge an Natur und Ressourcen in Kilogramm bzw. Tonnen, die zur Erbringung einer Dienstleistung genutzt wird. Der »Carbon Footprint« bilanziert die Menge an Treibhausgasen, welche für Produkte und Dienstleistungen emittiert werden, und gilt als Maß für das damit verbundene Klimaerwärmungspotential. Weiterhin gibt es ähnliche Konzepte für Wasser und Flächen sowie kombinierte Fußabdrücke wie z.B. einen »Nutritional Footprint«, der gesundheitliche mit ökologischen Aspekten koppelt (vgl. Kap. 15 zur Ernährungswende sowie Lukas, Rohn, Lettenmeier, Liedtke & Wiesen, 2016). Allen Fußabdrücken gemeinsam ist, dass sie den planetaren Grenzen (vgl. Kap. 9) gegenübergestellt werden können. Werden diese überschritten, so sind wichtige Systemfunktionen der Natur in hohem Maße gefährdet. Sie stehen dann nicht mehr für das Leben und Wirtschaften auf der Erde zur Verfügung – dies betrifft soziale, ökologische und ökonomische Funktionen gleichermaßen.
(2) Das zweite Konzept zur Abschätzung einer ökologischen Gesamtbelastung ist der 1994 von Friedrich Schmidt-Bleek am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie entwickelte »ökologische Rucksack« (vgl. Kasten). Mit dem ökologischen Rucksack werden alle Ressourcenverbräuche gemessen, die mit der Rohstoffgewinnung, Herstellung, dem Gebrauch, dem Recycling und der Entsorgung eines Produktes einhergehen (vgl. zur Entwicklung der Ressourcenverbräuche und möglichen Anwendung Liedtke u.a., 2014, und Bringezu & Bleischwitz, 2009). Auf Basis einer solchen Berechnung erfordert ein herkömmliches Mobiltelefon bereits 75 kg materielle Ressourcen pro Stück (Nordmann u.a., 2015), während für jeden gefahrenen Kilometer mit einem Pkw etwa 500 g benötigt werden (DLR & Wuppertal Institut, 2015).
Der ökologische Rucksack eines Mobiltelefons
Die Zahl der Mobilfunkanschlüsse stieg weltweit von 5,3 Mrd. in 2010 auf etwa 7,7 Mrd. 2017 (ITU, 2017). Die dynamische Entwicklung der Mobiltelefonie ist mit einem schnell steigenden Ressourcenbedarf verbunden. Der ökologische Rucksack eines Mobiltelefons beträgt etwa 75 kg, ca. 28 % des Materialgehalts stellen Metalle dar (Nordmann u.a., 2015). Darunter befinden sich viele edle (z.B. Platingruppe) sowie kritische Metalle wie Indium und Tantal. Smartphones zeichnen sich dabei gegenüber anderen Mobiltelefonen nicht nur durch einen erhöhten Funktionsumfang aus, sondern auch durch einen höheren Materialbedarf. So ermitteln Teubler et al. (2018) einen ökologischen Rucksack von rund 110 kg allein für die Herstellung, wovon der überwiegende Anteil auf den vermehrten Einsatz von Rohstoffen für elektronische Komponenten zurückzuführen ist.
Abb. 10.2:Ökologischer Rucksack eines Mobiltelefons. Quelle: IZMF/Lichtblick auf der Basis von WI-Daten (IZMF, 2015) Anfangs heftig umstritten, hat sich die Idee des Gesamtressourcenverbrauches heute als ein richtungssicheres Maß für die Reduktion der ökologischen Gesamtbelastung von Volkswirtschaften, Produkten, Dienstleistungen und dem individuellen Konsum (vgl. z.B. Wuppertal Institut, 2018b) durchgesetzt. In vielen nationalen Statistiken sowie in der europäischen Statistik werden Ressourcenverbräuche heute als wichtiger Umweltmaßstab ausgewiesen (Statistics Sweden’s Switchboard, 2016).
Was ist eine 8-Tonnen-Gesellschaft?
Die Klimaforschung kann heute berechnen, wie viel Kohlenstoffbudget noch zur Verfügung steht, um das 2-Grad-Ziel einzuhalten (vgl. Kap. 7). Rechnet man diesen Wert als gleich verteiltes Budget auf jeden Erdenbürger herunter, ergibt sich ein CO2-Ausstoß von maximal 2 Tonnen pro Kopf und Jahr, der bis zum Jahr 2050 eingehalten werden (WBGU, 2009b) und bei vollständiger Dekarbonisierung bis Ende des Jahrhunderts auf null Tonnen sinken muss. In Deutschland liegt der durchschnittliche Pro-Kopf-Ausstoß derzeit (2015) bei rund 8,93 Tonnen CO2 pro Kopf (Statista, 2017c). Ein solcher »Faktor 4 oder 5« (Weizsäcker u.a., 1995; Weizsäcker, Hargroves, Smith, Desha & Stasinopoulos, 2010) lässt sich auch auf den Ressourcenverbrauch übertragen. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Ressourcen-Verbrauch in Deutschland liegt heute bei rund 30 Tonnen pro Jahr und Kopf (Buhl, Liedtke & Stadler, 2017). Für einen wirklich nachhaltigen Lebensstil müsste Deutschland daher zur »8-Tonnen-Gesellschaft« (Lettenmeier, Liedtke & Rohn, 2014) werden. Je nach Lebensstil gehen unsere Ressourcen insbesondere in die Befriedigung der Bedürfnisse nach (beheiztem) Wohnen, in unsere Ernährung, unsere Mobilität, unsere Urlaubsreisen und die Gegenstände des täglichen Bedarfes. Mit einem »Ressourcenrechner« (www.ressourcen-rechner.de) kann heute jeder ganz individuell seinen aktuellen Ressourcen-Rucksack berechnen und feststellen, wie weit der Weg zu einem 8-Tonnen-Lebensstil noch ist.
Ressourcenrechner – Ein Einblick in Pro-Kopf-Ressourcenverbräuche in Deutschland
Die Abteilung »Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren« des Wuppertal Instituts stellt auf www.ressourcen-rechner.de eine Online-Applikation zur Verfügung, die es Nutzern erlaubt, den ökologischen Rucksack in den Bereichen Wohnen, Konsum, Ernährung, Mobilität, Freizeit, Urlaub und insgesamt zu berechnen. Neben Variablen zum ökologischen Rucksack werden Personen- und Haushaltsmerkmale erhoben. Bis Ende 2017 sind 50000 anonyme Profile in diese Analyse eingegangen, die auch erweiterte Angaben zu den Nutzern erfasste. Der durchschnittliche Ressourcenverbrauch der erfassten Profile betrug rund 26 Tonnen pro Nutzer. Die 10 % der Nutzer mit den geringsten Verbräuchen (Gruppe 1) haben einen durchschnittlichen ökologischen Rucksack von rund 14,4 Tonnen. Die 10 % der Nutzer mit den höchsten Verbräuchen (Gruppe 10) haben einen ökologischen Rucksack von rund 41,6 Tonnen. Das entspricht einem Unterschied um den Faktor 3,5. Wohnen (35 %), Ernährung (22 %) und Mobilität (23 %) vereinen 80 % des Ressourcenverbrauchs. Der Verbrauch im Bereich Mobilität liegt beispielsweise zwischen 2 Tonnen (unterste 10 %) und 14 Tonnen (oberste 10 %) pro Nutzer und Jahr. Während der Anteil von Wohnen am Ressourcenverbrauch konstant bleibt, drehen sich die Anteile von Ernährung und Mobilität mit zunehmendem Verbrauch um. In der Auswertung der Daten zeigte sich u.a., dass Unterschiede im Ressourcenverbrauch keinen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit der Nutzer hatten (Buhl, Liedtke & Bienge, 2017). …