Harald Welzer: Alles könnte anders sein

Harad Welzer, Alles könnte anders sein - Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, 2018

Ausschnitt Aus 

Kapitel 1 Wiedergutmachen


... Ängste treiben die Menschen in einer Welt um, in der die Lebenserwartung so hoch und die Gewaltkriminalität so niedrig ist wie niemals zuvor. Der Prozess der Zivilisierung ist, wie Steven Pinker (2012) einerseits und Yuval Noah Harari (2015) andererseits gezeigt haben, dadurch charakterisiert, dass das Niveau der körperlichen Gewalt, die Menschen gegenüber anderen Menschen ausüben, beständig absinkt. Nie war es, besonders in funktionierenden Rechtsstaaten, so unwahrscheinlich wie heute, Opfer einer Gewalttat zu werden. In modernen Gesellschaften liegt das insbesondere daran, dass der Staat das Gewaltmonopol hat, weshalb jede Form der willkürlichen und nicht gesetzlich legitimierten Gewalt verfolgt und bestraft wird. Im Ergebnis hat das zu einer drastisch gesunkenen Gewaltrate geführt. Aber nicht nur statistisch leben wir heute in der friedlichsten aller Zeiten, auch ein kurzer Blick auf das, was wir für normal und was wir für kriminell halten, hat sich allein im letzten halben Jahrhundert radikal verändert. 


Ich bin wie viele Altersgenossen zum Beispiel in der Schule bis in die 1970er Jahre hinein noch von Lehrern geschlagen worden – wobei übrigens die politische Einstellung keine Rolle spielte: Ein späteres Gründungsmitglied der GRÜNEN und Anhänger der antiautoritären Erziehung schlug damals ebenso schmerzhaft zu wie ein beliebiger Altnazi. Auch in den Familien wurden Kinder noch verprügelt, ebenso wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht selten von körperlicher Gewalt geprägt war. Die Vergewaltigung in der Ehe gilt in der Bundesrepublik erst seit 1997 als Straftat, und die #metoo-Debatte, die gerade auf Hochtouren lief, als ich dieses Buch schrieb, dreht sich vor allem um Fälle, die drei, vier Jahrzehnte zurückliegen – was nichts anderes heißt, als dass damals Gewalt weit alltäglicher und somit akzeptierter war als heute. 


Der Skandal kommt in diesem Licht genauso verspätet wie umgekehrt die Vorstellung, dass Gewalt ständig zunehme. Das Gegenteil ist der Fall. Jedes einzelne Gewaltdelikt fällt gerade darum besonders auf, weil die direkte Gewalt aus unserem Alltag so weitgehend verschwunden ist. 


Die Berechnungen, die Steven Pinker akribisch durch die Menschheitsgeschichte hindurch anstellt, weisen mit Nachdruck darauf hin, dass selbst im berüchtigten 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, einem Holocaust und mehreren anderen Völkermorden relativ weniger Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sind als in den Jahrhunderten davor. Es gibt heute auch in globaler Perspektive weniger Gewalt als je zuvor. Dasselbe gilt für die medial hyperpräsente und geradezu hyperventilierende Terrorgefahr: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Opfer eines Terroranschlags zu werden? Jährlich gibt es weltweit etwa 25000 Terroropfer, die allermeisten in armen islamischen Ländern, nur gerade ein Prozent davon im reichen Westen. Jedes Jahr sterben in Deutschland fast 10000 Menschen an Haushaltsunfällen, über 3000 im Straßenverkehr (das sind neun jeden Tag), 400000 werden durch Verkehrsunfälle verletzt, bis zu 6000 sterben infolge von Feinstaubemissionen. Das Auto tötet massenhaft, dem Terror hingegen fielen in der Bundesrepublik im Jahr 2016 vierzehn Menschen zum Opfer, in den Jahren 2017 und 2018 kein einziger. Trotzdem geben in Umfragen zwei Drittel der Deutschen die Angst vor dem Terrorismus als ihre größte Angst an (und die Politik instrumentalisiert diese Angst, womit sie den Terrorismus über jedes von ihm selbst erreichbare Maß hinaus erfolgreich macht). 


Überall dort, wo keine funktionierende Staatlichkeit herrscht, wo die Behörden und die Polizei korrupt sind, hat man es mit alltäglicher Gewalt zu tun. Und in Diktaturen sowieso: Dort schützt kein Recht vor willkürlicher Gewalt durch die staatlichen Organe; die Bürgerinnen und Bürger sind ihr in jeder Form ausgeliefert: als permanente Drohung, als sexuelle Gewalt, als Entführung, als Verhaftung, als Folter, als Totschlag. Schauen Sie in die Türkei und überlegen Sie, was Ihnen als unbescholtener Bürgerin dort passieren kann, wenn es jemandem einfällt, Sie als Anhängerin der Gülen-Bewegung, der PKK oder auch nur als Gegnerin der Regierung zu denunzieren. Von dem Augenblick an haben Sie keine Kontrolle mehr über Ihr Leben. Ebenso wie im Mittelalter die meisten Frauen und Männer keine Kontrolle über ihr Leben hatten: Der Gutsherr vergewaltigte nach Lust und Laune, Armeen hoben Rekruten aus, Gewalt war ein alltägliches Geschehen. Fragen Sie in der eigenen Familie, wie das früher war. Mein Großvater zum Beispiel war ein uneheliches Kind, und niemand weiß bis heute, wer seine extrem junge Mutter (also meine Urgroßmutter) geschwängert hatte. Das Baby wurde als »Wechselbalg« auf einen anderen Hof gegeben und wuchs dort auf, verhasst und ganz unten in der sozialen Hackordnung. Das war nicht im Mittelalter und auch nicht in Afghanistan. Das war im protestantischen Norddeutschland, vor gerade mal drei Generationen. 


Was für ein unglaublicher Fortschritt also: Sie leben heute in einem modernen liberalen Rechtsstaat sicherer an Leib und Leben als je ein Mensch vor Ihnen. Deshalb ist übrigens auch Ihre Chance, länger zu leben als ihre Vorfahren, erheblich größer. Es ist ja ein weitverbreiteter Irrtum, die heute gegenüber dem 19. Jahrhundert verdoppelte Lebenserwartung hauptsächlich auf die Segnungen der Medizin, des iPhone-überwachten Morgensports und die bessere Ernährung zurückzuführen. Früher wurden einzelne Menschen genauso alt wie heute. Es kamen nur weniger dahin; die meisten wurden vor dem Erreichen ihres natürlichen Lebensendes totgeschlagen, verhungerten oder starben im Kindbett. Und natürlich war die im Vergleich zu heute exorbitant hohe Kindersterblichkeit ein wesentlicher statistischer Grund für die durchschnittlich geringe Lebenserwartung – noch vor einem halben Jahrhundert starb jedes fünfte Kind vor seinem fünften Geburtstag.[2] Ein wesentlicher Grund ist auch der Rückgang der Armut: Vor 200 Jahren lebten 84 Prozent aller Menschen in extremer Armut, heute sind es etwa 10 Prozent.[3] 


Dass man heute mehrheitlich ein hohes Lebensalter erreicht, hat primär eine gesellschaftliche Ursache: Mit dem modernen Rechtsstaat ist eine Form von Gesellschaft geschaffen worden, die ein weitgehend sicheres und unbeschädigtes Leben für alle ermöglicht. Das ist, man muss es deutlich sagen, nicht Nichts. 


Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus 


Nicht Nichts ist übrigens auch der Sachverhalt, dass ein Land wie Deutschland seit mehr als 70 Jahren mit seinen Nachbarn in Frieden lebt. Ein Blick auf die simple Animation »Europe in the last thousand years« auf Youtube zeigt eindrücklich, was das heißt: Dieser kleine Kontinent befand sich mehr als 900 Jahre lang in beständiger Veränderung, weil andauernd ein Reich ein anderes bekämpfte, weil Herrschaft mit Eroberungen ausgebaut und gesichert wurde. Zwei Drittel eines Jahrhunderts Frieden wäre den Menschen ganz undenkbar erschienen, ein Drittel eines Jahrhunderts Krieg hatte es dagegen durchaus schon gegeben. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen Millionen Toten, Ermordeten, Deportierten und Vertriebenen ist hierzulande – nichts mehr passiert. Das ist historisch betrachtet eine Sensation. Es ist historisch betrachtet auch die einsame Ausnahme. Zwar gibt es Länder, die – wie zum Beispiel Schweden – noch viel länger an keinem Krieg mehr beteiligt waren. Aber auf der Ebene eines ganzen, national und regional höchst diversen Kontinents ist eine Friedenszeit, die mehr als zwei Generationen umspannt, einzigartig. 


Jaja, ich weiß natürlich, dass das nur ein Teil der ganzen Geschichte ist – dass europäische Länder viele Stellvertreterkriege und Gewaltregime in Afrika oder Südamerika mit zu verantworten haben, dass deutsche Unternehmen wie die Volkswagen AG Diktatoren unterstützt und Zwangsarbeiter beschäftigt haben und dies bei sich bietender Gelegenheit vermutlich auch heute tun würden. Aber Kritik können wir alle sehr routiniert. Weniger geübt sind wir im Aufzählen dessen, was positiv zu Buche schlägt. Oder anders gesagt: bei dem, was es Rocco ermöglicht hat, sein Versprechen wahr zu machen. 


Ist Ihnen, um gleich weiterzumachen, eigentlich klar, dass Ihr persönlicher Lebensstandard weit besser ist als der von Ludwig dem XIV.? Okay, Sie haben keinen Hermelinmantel und nicht so schicke Schühchen. Aber Sie haben: fließend Wasser, warm und kalt, Heizung, ein dichtes Dach, Fenster, durch die es nicht zieht, regendichte Kleidung, Schuhe für jede Jahreszeit, Fortbewegungsmittel aller Art, einen Zahnarzt, Betäubungsspritzen, minimalinvasive Chirurgie, Gleitsichtgläser, Zahnspangen, Schulen, Universitäten, Vereine, Schwimmbäder, Urlaubsreisen und insgesamt so viel mehr, dass die Aufzählung dessen, was Ihnen ganz allein und ganz persönlich verfügbar ist, den Umfang dieses Buches sprengen würde. Jedenfalls hungern Sie nicht, und Ihre Wohnung ist komfortabel geheizt, was man vom Versailler Schloss nicht sagen kann. 


Und: Sie durften in die Schule gehen, eine Ausbildung machen, vielleicht studieren. Ihr Studium abbrechen. Ein anderes beginnen. Unglaublich: Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen – nach einer Drogenkarriere, nach einer lebensgeschichtlichen Verwirrung – zweite und dritte Chancen gibt. Wir hatten einen ehemals Molotowcocktails werfenden Außenminister, der hohes internationales Ansehen genoss. Einem ansonsten erfolglosen Kanzlerkandidaten wurde zugutegehalten, dass er seine Alkoholsucht überwunden hatte. Wir leben in einer Gesellschaft, die Fehler verzeiht. Das ist historisch neu. Einzigartig. 


Und diese Form von Gesellschaft – die offene moderne Gesellschaft – eröffnet ihren einzelnen Mitgliedern die größtmögliche Freiheit, über die Menschen je verfügen durften. Sie können tun und lassen, denken und sagen, was sie wollen, und um es mal ganz deutlich festzuhalten: In solch einer Gesellschaft braucht es überhaupt keinen Mut, seine Meinung zu äußern, für andere einzutreten, eine Bürgerinitiative zu gründen oder was auch immer. Mut braucht man in Diktaturen. Hier ist Mut ersetzt durch ein Gesetzbuch und Institutionen, die Ihre Freiheit schützen. 


Da ist es kein Wunder, dass die Oma einer Mitarbeiterin von mir jedes Jahr den Tag ihrer Ankunft in Deutschland feiert. Sie war vor mehr als einem halben Jahrhundert aus Rumänien geflohen und lebt seither in diesem Land. Sie ist sehr glücklich darüber. Merkwürdigerweise feiern die restlichen 80 Millionen Deutschen nie, dass sie in diesem Land leben. Im Gegenteil: Wie verwöhnte zu groß geratene Kinder sind sie chronisch unzufrieden und machen irgendwen – Angela Merkel, das Großkapital, die Flüchtlinge, die Vogonen – dafür verantwortlich. Und dabei habe ich vom unglaublichen Reichtum, von der Kaufkraft, von allem, was man an Produkten und Dienstleistungen konsumieren kann, noch gar nicht gesprochen. Das will ich auch gar nicht, Sie wissen selbst, dass Sie von allem zu viel haben und dass das meiste davon nichts taugt. Ich habe genug dazu geschrieben und gesagt, Wiederholungen sind langweilig. Nur eins noch: Die Welt beginnt sich im globalen Maßstab gerade erst in eine Konsumhölle zu verwandeln und soll bald überall genauso aussehen wie Oberhausen oder der zum Konsumgulag degradierte Alexanderplatz in Berlin. In diesem Prozess wird sie, wie Roccos Großvater, zugrunde gehen. Wenn nichts dagegen unternommen wird. Nein, falsch: Wenn Sie und ich nichts dagegen unternehmen. ...