Michael Schmidt-Salomon: Die Zukunft der Religion

"Aus dem Niedergang der Offenbarungsreligionen in den entwickelten Gesellschaften lässt sich keineswegs ableiten, dass es keine »Religiosität« mehr gebe. Tatsächlich ist uns der religiöse Impuls, der »Sinn und Geschmack für das Unendliche«, wie Friedrich Schleiermacher dies nannte, nicht abhandengekommen, er wurde durch den Niedergang der institutionellen Religionen sogar befördert. Denn die Wissenschaft, die zunehmend an die Stelle der Religion tritt, hat die Welt nicht bloß »entzaubert«, wie Max Weber meinte, sie hat ihr zugleich einen neuen Zauber verliehen. Warum? Weil die Wissenschaft uns den Blick auf die unendlichen Dimensionen eines Universums eröffnet hat, das sehr viel geheimnisvoller ist, als es sich sämtliche Religionsstifter haben vorstellen können. 

 

Nehmen wir zum Beispiel den Staffellauf des Lebens, den die moderne Evolutionsbiologie aufgedeckt hat: Stellen wir uns vor, wie viele Organismen das kostbare Gut des Lebens transportiert haben von den Einzellern der Urzeit zu den ersten Fischen, Amphibien, Reptilien, Säugetieren, Primaten, Menschenaffen, bis es dann bei uns beiden ankam, die wir jetzt miteinander reden. Oder nehmen wir ein Beispiel aus der Physik: Die Atome, aus denen jeder von uns besteht, haben schon vor 13,8 Milliarden Jahren alle erdenklichen Formen von Materie hervorgebracht und werden nach unserem Tod wiederum alle erdenklichen Formen von Materie hervorbringen. Ich meine: In der wissenschaftlichen Sichtweise liegt eine Poesie, die alle Dimensionen sprengt. Sie beflügelt den Sinn und Geschmack für das Unendliche weit mehr als das, was uns die Religionen vorgegeben haben. Dies ist der reale Zauber des Kosmos."

 

Michael Schmidt-Salomon

evolve 21 

„Die Zukunft der Religion“

 

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