ZEIT 27.12.2018
Von Herfried Münkler
Auszug:
…Die Krise der Demokratie resultiert immer aus einer doppelten Bedrohung: dem Vorstoß derer, die alle Macht an sich ziehen wollen und im Rückzug jener, denen politisches Engagement auf Dauer eine Last ist, derer sie sich entledigen wollen. Wer die Demokratie verteidigen will, muss diese doppelte Bedrohungslage wahrnehmen.
Im antiken Verfassungsschema ist die Oligarchie die Verfallsform der Aristokratie, und die Ochlokratie, die Herrschaft des Pöbels, ist die Verfallsform der Demokratie. Die Oligarchie unterscheidet sich von der Aristokratie, weil nicht mehr die besten herrschen, was in der Regel auf die Herrschaft altadliger Familien hinaus lief, sondern die reichsten das Sagen haben, jedenfalls jene, die sich im Machtkampf durchgesetzt haben. Die Ochlokratie steht für die Herrschaft der Straße, den übergroßen Einfluss gewaltbereiter Gruppen also, die nicht selten im Bündnis mit den Oligarchen dafür sorgen, dass eine geordnete Äußerung des Volkswillens unmöglich ist. Prinzipiell weisen Demokratien zwei konträre Richtungen der Veränderungen auf, die zum Autoritären und die zum Anarchischen. In den gegenwärtigen Entwicklungsprozessen verschwimmen die beiden jedoch ineinander. So wird aus der latenten eine akute Krise der Demokratie. Es spricht vieles dafür, dass das zurzeit nicht nur in Deutschland der Fall ist, sondern in allen Ländern des Raumes, der sich bis vor kurzem noch selbstbewusst als "DerWesten" bezeichnete.
Ferdinand Tönnies, einer der Gründerväter der Soziologie in Deutschland, hat systematisch zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft unterschieden. Man kann den Prozess der Modernisierung in den vergangenen zweihundert Jahren als Ablösung der Gemeinschaft durch die Gesellschaft beschreiben. Gemeinschaften drücken dem Einzelnen ihren Prägestempel sehr viel stärker auf als Gesellschaften. Der Übergang zur Gesellschaft schafft Freiräume und Freiheiten. Das Paradoxe an dieser Entwicklung ist, dass der Zuwachs an Freiheit oft mit einer nostalgischen Sehnsucht nach der Geborgenheit früherer Gemeinschaften einhergeht. Gemeinschaften sind und werden integriert, in dem die Menschen den Zusammenhalt wollen und ihn gegen alle Wiederstrebenden durchsetzen. Gesellschaften hingegen integrieren sich, indem ihre Teile miteinander konkurrieren und konfligieren. Wenn es in der politischen Debatte zur Zeit um den Zusammenhalt der Gesellschaft geht, muss man wissen, was zusammengehalten werden soll: eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft.
Bei Gemeinschaften geht es um die Stärkung des Gemeinschaftsethos, bei Gesellschaften ist das ja viel schwieriger, weil funktionale Effekte ins Spiel kommen, die sich hinter dem Willen der einzelnen vollziehen. Populisten gleich welcher Couleur behandeln Gesellschaften, als wären sie Gemeinschaften. Das hat Gesellschaft zerstörende Folgen. Wer den Zusammenhalt von Gesellschaften sicherstellen will, muss darum klüger und weitsichtiger sein, als dass der Populismus von seiner Grundintention her erlaubt.
Gesellschaften bedürfen, um sich gegen den Ansturm ständig neuer und wechselnder Herausforderungen behaupten zu können, gleichermaßen der Stabilität wie der Flexibilität. Diese Gleichzeitigkeit ist in den Sprachbildern der Mechanik nicht zu fassen, und deswegen ist es nur folgerichtig, dass mit dem Begriff der Resilienz, ein in der Biologie entlehnter Begriff in Umlauf gekommen ist. Resilienz bezeichnet ursprünglich die Fähigkeit eines Individuums oder eines Organismus, Krisen zu bewältigen. Auf die Politik übertragen: moderne Gesellschaften sind verwundbar, doch diese Verwundungen sind nicht tödlich, wenn in der Gesellschaft etwas nachwächst, was weniger verwundbar ist als das Vorherige. Das ist freilich nicht mehr als eine Metapher, die einen komplexen Vorgang vorstellbar macht. Die Voraussetzung dafür ist eben das, was die Gesellschaft von der Gemeinschaft unterscheidet, nämlich ihre Vielfältigkeit und Differenziertheit, die es ermöglicht, bei Bedrohungen und Gefahren, Risiken und Herausforderungen das jeweils bestgeeignete Reaktionsmodell herauszugreifen. Je liberaler eine Gesellschaft ist, desto mehr unterschiedliche Reaktionen stehen ihr zur Verfügung. Und je stärker die politischen und sozialen, die fiskalischen und ökonomischen Räume entgrenzt sind, desto besser können Gesellschaften, die über die verschiedenartige Reaktions Modelle verfügen, sich darauf einstellen.
Vereinfacht formuliert erwächst die Resilienz einer Gesellschaft also aus dem Zusammenspiel zwischen der Dynamik des Marktes, der Vitalität einer Zivilgesellschaft und der Lernfähigkeit des politischen Systems. Gemeinschaften hingegen sind auf Begrenzungen und Abgrenzungen angewiesen. Sie sind zu dynamischer Veränderung und beschleunigtem Lernen nicht fähig, denn das würde sie zerstören. Linke wie rechte Populisten, die starken Gemeinschaftsvorstellungen anhängen, sind deswegen konsequenterweise für ausgeprägte Grenzregime und gehen in Abwehrhaltung, sobald sie mit dem Fremden konfrontiert sind.
Das kann freilich nicht heißen dass die Forcierung neoliberaler Politik, die auf eine wachsende Gleichgültigkeit der Gesellschaftsmitglieder gegenüber der Gesellschaft im Ganzen setzt, die angemessene Antwort auf das Erfordernis des Zusammenhalts der Gesellschaft wäre. Eine Politik der Resilienz muss auch dem Umstand Rechnung tragen, dass die Mitglieder der Gesellschaft ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz haben, dass von prinzipiell offenen Gesellschaften nicht ohne weiteres befriedigt wird.
Die populistischen Bewegungen Europa in Europa stehen - freilich eher was die Wähler als was die Anführer dieser Gruppierungen anbetrifft - für die Forderung nach Inseln der Geborgenheit in einer Welt, die durch Beschleunigung und Entgrenzung gekennzeichnet ist. Solche Geborgenheit können durchaus auch mal gerne Gesellschaften bieten. Der Ort dafür ist die Zivilgesellschaft mit ihrem auf Gemeinsinnbildung hin orientierten Vernetzungsmöglichkeiten, etwa in Vereinen und Verbänden. Sie bietet so Möglichkeiten der Entschleunigung und der Vergemeinschaftung. Wenn solche Formen der Bildung von Gemeinsinn funktionieren, zeigten auch Umverteilungsmaßnahmen Wirkung und tragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Wo das nicht der Fall ist, werden wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen notorisch mit dem Vorwurf konfrontiert, zu wenig und zu selten zu sein oder den falschen Gruppen zu dienen.
An dieser Frage wird sich letztlich entscheiden, welche Rolle der Populismus künftig spielen kann. Auch das gehört zu einer Struktur der Resilienz: dass die Offenheitstoleranz der Gesellschaftsmitglieder nicht überfordert wird, was im Gegenzug freilich heißt, dass diese sich von der Illusion freimachen, in einer Gemeinschaft und nicht in einer Gesellschaft zu leben.
Herfried Münkler, 67, lehrt Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Text beruht auf einem Vortrag bei der Körber-Stiftung.
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