Markus Gabriel, Berlin 1913
Leseprobe ...
Philosophie neu denken
Das Leben, das Universum und der ganze Rest … vermutlich hat sich jeder schon häufig die Frage gestellt, was das alles eigentlich soll. Worin befinden wir uns? Sind wir nur eine Anhäufung von Elementarteilchen in einem riesigen Weltbehälter? Oder haben unsere Gedanken, Wünsche und Hoffnungen eine eigene Realität, und wenn ja: welche? Wie können wir unsere Existenz oder sogar Existenz im Allgemeinen verstehen? Und wie weit reicht unsere Erkenntnis?
Ich werde in diesem Buch den Grundsatz einer neuen Philosophie entwickeln, die von einem einfachen Grundgedanken ausgeht, nämlich dem, dass es die Welt nicht gibt. Wie Sie sehen werden, bedeutet dies nicht, dass es überhaupt nichts gibt. Es gibt unseren Planeten, meine Träume, die Evolution, Toilettenspülungen, Haarausfall, Hoffnungen, Elementarteilchen und sogar Einhörner auf dem Mond, um nur einiges herauszugreifen. Der Grundsatz, dass es die Welt nicht gibt, schließt ein, dass es alles andere gibt. Ich kann deswegen schon einmal vorab in Aussicht stellen, dass ich behaupten werde, dass es alles gibt, bis auf eines: die Welt.
Der zweite Grundgedanke dieses Buches ist der Neue Realismus. Der Neue Realismus beschreibt eine philosophische Haltung, die das Zeitalter nach der sogenannten »Postmoderne« kennzeichnen soll (das ich, streng autobiographisch gesprochen, im Sommer 2011 – genau genommen am 23. 6. 2011, gegen 13 : 30 Uhr – bei einem Mittagessen in Neapel zusammen mit dem italienischen Philosophen Maurizio Ferraris eingeläutet habe.1) Der Neue Realismus ist also zunächst einmal nichts weiter als der Name für das Zeitalter nach der Postmoderne.
Die Postmoderne war der Versuch, radikal von vorne anzufangen, nachdem alle großen Heilsversprechen der Menschheit, von den Religionen über die moderne Wissenschaft bis hin zu den allzu radikalen politischen Ideen des linken und rechten Totalitarismus, gescheitert waren. Die Postmoderne wollte den Bruch mit der Tradition vollziehen und uns von der Illusion befreien, es gebe einen Sinn des Lebens, nach dem wir alle streben sollten.2 Um uns von dieser Illusion zu befreien, hat sie allerdings nur neue Illusionen erzeugt – insbesondere die, dass wir in unseren Illusionen gleichsam feststecken. Die Postmoderne wollte uns weismachen, die Menschheit leide seit der Prähistorie unter einer gigantischen kollektiven Halluzination, der Metaphysik.
Schein und Sein
Metaphysik kann man als den Versuch definieren, eine Theorie des Weltganzen zu entwickeln. Sie soll beschreiben, wie die Welt in Wirklichkeit ist, nicht, wie die Welt uns vorkommt, wie sie uns erscheint. Auf diese Weise hat die Metaphysik die Welt gewissermaßen erst erfunden. Wenn wir von »der Welt« sprechen, meinen wir alles, was wirklich der Fall ist, oder anders: die Wirklichkeit. Dabei liegt es nahe, uns Menschen aus der Gleichung »die Welt = alles, was wirklich der Fall ist« rauszustreichen. Denn man nimmt ja an, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Dingen, wie sie uns erscheinen, und den Dingen, wie sie wirklich sind. Um herauszufinden, wie sie wirklich sind, muss man also sozusagen alles Menschengemachte am Erkenntnisprozess abziehen. Jetzt stecken wir schon knietief in der Philosophie.
Die Postmoderne hat dagegen eingewandt, dass es nur die Dinge gibt, wie sie uns erscheinen. Es gebe überhaupt nichts mehr dahinter, keine Welt oder Wirklichkeit an sich. Manche etwas weniger radikale Vertreter der Postmoderne wie der amerikanische Philosoph Richard Rorty meinten, es möge zwar noch etwas hinter der Welt geben, wie sie uns erscheint. Doch dies spiele eben für uns Menschen keine Rolle.
Die Postmoderne ist allerdings nur eine weitere Variante der Metaphysik. Genau genommen handelte es sich bei ihr um eine sehr allgemeine Form des Konstruktivismus. Der Konstruktivismus basiert auf der Annahme, dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gibt, dass wir vielmehr alle Tatsachen nur durch unsere vielfältigen Diskurse oder wissenschaftlichen Methoden konstruieren. Wichtigster Gewährsmann dieser Tradition ist Immanuel Kant. Kant hat behauptet, dass wir die Welt, wie sie an sich ist, nicht erkennen können. Egal was wir erkennen, es sei immer auch irgendwie von Menschen gemacht.
Nehmen wir ein Beispiel, das in diesem Kontext häufig verwendet wird, nämlich die Farben. Spätestens seit Galileo Galilei und Isaac Newton stehen Farben im Verdacht, gar nicht wirklich zu existieren. Diese Annahme hat farbenfrohe Charaktere wie Goethe so sehr verärgert, dass er deswegen eine eigene Farbenlehre verfasst hat. Man könnte meinen, Farben seien nur Wellen einer bestimmten Länge, die auf unser Sehorgan treffen. Die Welt an sich sei eigentlich völlig farblos, sie bestehe nur aus irgendwelchen Teilchen, die sich in einer mittleren Größenordnung zusammenfinden und sich gegenseitig stabilisieren. Genau diese These ist Metaphysik. Sie behauptet, dass die Welt an sich ganz anders ist, als sie uns erscheint. Nur war Kant noch viel radikaler. Er behauptete, dass auch diese Annahme – von Teilchen in der Raumzeit – nur eine Art und Weise sei, wie uns die Welt an sich erscheint. Wie sie wirklich ist, könnten wir überhaupt nicht herausfinden. Alles, was wir erkennen, sei von uns gemacht, und deswegen könnten wir es eben auch erkennen. In einem berühmten Brief an seine Verlobte, Wilhelmine von Zenge, hat Heinrich von Kleist den kantischen Konstruktivismus folgendermaßen veranschaulicht:
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.3
Der Konstruktivismus glaubt an Kants »grüne Brille«. Die Postmoderne hat dem hinzugefügt, dass wir nicht nur eine einzige, sondern ziemlich viele Brillen tragen: die Wissenschaft, die Politik, die Sprachspiele der Liebe, der Poesie, die verschiedenen natürlichen Sprachen, die sozialen Konventionen und so weiter. Alles sei nur ein kompliziertes Spiel mit Illusionen, in dem wir uns gegenseitig den Platz in der Welt zuweisen, oder einfach ausgedrückt: Die Postmoderne hielt die menschliche Existenz für einen langen französischen Kunstfilm, in dem alle Beteiligten sich darum bemühen, einander zu verführen, Macht über die anderen zu erlangen und sie zu manipulieren. Mit geschickter Ironie wird dieses Klischee im französischen Gegenwartsfilm in Frage gestellt, man denke etwa an Jean-Claude Brisseaus Heimliche Spiele oder Catherine Breillats Anatomie der Hölle. Amüsant und verspielt wird diese Option aber auch in David O. Russells I love Huckabees zurückgewiesen, ein Film, der neben Klassikern wie Magnolia eines der besten Zeugnisse für den Neuen Realismus darstellt.
Aber die menschliche Existenz und Erkenntnis ist weder eine kollektive Halluzination, noch stecken wir in irgendwelchen Bilderwelten oder Begriffssystemen fest, hinter denen sich die wirkliche Welt befindet. Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist. Natürlich können wir uns täuschen, dann befinden wir uns unter Umständen in einer Illusion. Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen.
Der Neue Realismus
Um zu verstehen, inwiefern der Neue Realismus eine neue Einstellung zur Welt mit sich bringt, wählen wir ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, Astrid befinde sich gerade in Sorrent und sehe den Vesuv, während wir (also Sie, lieber Leser, und ich) gerade in Neapel sind und ebenfalls den Vesuv betrachten. Es gibt also in diesem Szenario den Vesuv, den Vesuv von Astrid aus (also aus Sorrent) gesehen und den Vesuv von uns aus (also aus Neapel) gesehen. Die Metaphysik behauptet, dass es in diesem Szenario einen einzigen wirklichen Gegenstand gibt, nämlich den Vesuv. Dieser wird gerade zufällig einmal aus Sorrent und ein andermal aus Neapel betrachtet, was ihn aber hoffentlich ziemlich kaltlässt. Es geht den Vesuv nichts an, wer sich für ihn interessiert. Das ist Metaphysik.
Der Konstruktivismus hingegen nimmt an, dass es in diesem Szenario drei Gegenstände gibt: den Vesuv für Astrid, Ihren Vesuv und meinen Vesuv. Dahinter gebe es entweder überhaupt keinen Gegenstand oder doch keinen Gegenstand, den wir jemals zu erkennen hoffen könnten.
Der Neue Realismus hingegen nimmt an, dass es in diesem Szenario mindestens vier Gegenstände gibt:
1. Der Vesuv.
2. Der Vesuv von Sorrent aus gesehen
(Astrids Perspektive).
3. Der Vesuv von Neapel aus gesehen (Ihre Perspektive).
4. Der Vesuv von Neapel aus gesehen (meine Perspektive).
Man kann sich leicht klarmachen, warum diese Option die beste ist. Es ist nicht nur eine Tatsache, dass der Vesuv ein Vulkan ist, der sich an einer bestimmten Stelle auf der Erdoberfläche befindet, die derzeit zu Italien gehört, sondern es ist ganz mit demselben Recht ebenfalls eine Tatsache, dass er von Sorrent aus soundso und von Neapel aus eben anders aussieht. Selbst meine geheimsten Empfindungen bei der Betrachtung des Vulkans sind Tatsachen (auch wenn sie nur so lange geheim bleiben, bis es einer komplizierten App für das iPhone 1000 Plus gelingt, meine Gedanken zu scannen und online zu stellen). Der Neue Realismus nimmt also an, dass Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.
Sowohl die Metaphysik als auch der Konstruktivismus scheitern dagegen an einer unbegründeten Vereinfachung der Wirklichkeit, indem sie die Wirklichkeit entweder einseitig als die Welt ohne Zuschauer oder ebenso einseitig als die Welt der Zuschauer verstehen. Die Welt, die ich kenne, ist aber immer eine Welt mit Zuschauer, in der Tatsachen, die sich nicht für mich interessieren, zusammen mit meinen Interessen (und Wahrnehmungen, Empfindungen und so weiter) bestehen. Die Welt ist weder ausschließlich die Welt ohne Zuschauer noch ausschließlich die Welt der Zuschauer. Dies ist der Neue Realismus. Der alte Realismus, sprich die Metaphysik, interessierte sich nur für die Welt ohne Zuschauer, während der Konstruktivismus recht narzisstisch die Welt und alles, was der Fall ist, auf unsere Einbildungen gründete. Beide Theorien führen zu nichts.
Man muss also erklären, wie es Zuschauer in einer Welt geben kann, in der es nicht immer schon und nicht überall Zuschauer gibt – eine Aufgabe, die in diesem Buch durch die Einführung einer neuen Ontologie gelöst wird. Unter Ontologie versteht man traditionell die »Lehre vom Seienden«. Das altgriechische Partizip »to on« bedeutet auf Deutsch »das Seiende«, und »logos« heißt in diesem Zusammenhang schlichtweg »Lehre«. In der Ontologie geht es letztlich um die Bedeutung von Existenz. Was behaupten wir eigentlich, wenn wir zum Beispiel sagen, dass es Erdmännchen gibt? Viele Menschen glauben, dass sich diese Frage an die Physik oder ganz allgemein die Naturwissenschaften richtet. Schließlich sei alles, was existiert, doch wohl materiell. Wir glauben doch auch nicht ernsthaft an Geister, die beliebig gegen die Naturgesetze verstoßen können und unerkennbar um uns herumschwirren. (Nun, die meisten von uns tun das nicht.) Doch wenn wir deswegen behaupten, dass nur dasjenige existiert, was sich naturwissenschaftlich untersuchen und mittels Skalpell, Mikroskop oder Hirnscanner sezieren oder ins Bild bringen lässt, wären wir weit über das Ziel hinausgeschossen. Denn in diesem Fall würden weder die Bundesrepublik Deutschland noch die Zukunft, die Zahlen oder meine Träume existieren. Da sie das aber tun, zögern wir ganz zu Recht, die Physiker mit der Frage nach dem Sein zu betrauen. Wie sich zeigen wird, ist die Physik, nun ja, voreingenommen.
Die Vielzahl der Welten
Vermutlich wollen Sie seit Beginn der Lektüre wissen, was es nun genau mit der Behauptung auf sich hat, dass es die Welt nicht gibt. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen und nehme deswegen vorweg, was später mit Hilfe nachvollziehbarer Gedankenexperimente, Beispiele und Paradoxien bewiesen wird. Man könnte meinen, die Welt sei der Bereich alles desjenigen, was ohne unser Zutun einfach so existiert und uns umschließt. Heutzutage sprechen wir etwa bedeutungsvoll vom »Universum« und meinen damit jene unendlichen Weiten, in denen zahllose Sonnen und Planeten ihre Bahn ziehen und die Menschen in einem ruhigen Seitenarm der Milchstraße ihre bescheidene Zivilisation aufgebaut haben. Das Universum existiert auch tatsächlich. Ich werde nicht behaupten, dass es keine Galaxien oder Schwarzen Löcher gibt. Aber ich behaupte, dass das Universum nicht das Ganze ist. Genau genommen ist das Universum ziemlich provinziell.
Unter dem Universum hat man sich den experimentell erschließbaren Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften vorzustellen. Doch die Welt ist erheblich größer als das Universum. Zur Welt gehören auch Staaten, Träume, nicht realisierte Möglichkeiten, Kunstwerke und insbesondere auch unsere Gedanken über die Welt. Es gibt also ziemlich viele Gegenstände, die man nicht anfassen kann. Indem Sie gerade die Gedanken über die Welt nachvollziehen, die ich Ihnen vorführe, verschwinden Sie ja nicht und schauen sozusagen nun von außen auf das Weltganze. Unsere Weltgedanken bleiben in der Welt, denn so leicht, durch bloßes Nachdenken, entkommen wir dem Schlamassel leider nicht!
Wenn aber auch Staaten, Träume, nicht realisierte Möglichkeiten, Kunstwerke und insbesondere auch unsere Gedanken über die Welt zur Welt gehören, kann sie nicht identisch mit dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften sein. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass die Physik oder die Biologie inzwischen auch die Soziologie, die Rechtswissenschaft oder die Germanistik integriert hätten. Auch habe ich noch nie davon gehört, dass die Mona Lisa in einem Chemielabor auseinandergenommen wurde. Dies wäre jedenfalls ziemlich teuer und wohl auch absurd. Sinnvoll definieren lässt sich die Welt demzufolge nur, wenn man sie als allumfassend, als den Bereich aller Bereiche bezeichnet. Die Welt wäre somit der Bereich, in dem nicht nur alle Dinge und Tatsachen existieren, die es auch ohne uns gibt, sondern auch all die Dinge und Tatsachen, die es nur mit uns gibt. Denn sie soll schließlich der Bereich sein, der alles umfasst – das Leben, das Universum und den ganzen Rest eben.
Doch genau dieses Allumfassende, die Welt, gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Mit dieser Hauptthese soll nicht nur die Illusion zerstört werden, es gebe die Welt, an der die Menschheit ziemlich hartnäckig festhält, sondern gleichzeitig möchte ich sie auch nutzen, um daraus positive Erkenntnisse zu gewinnen. Denn ich behaupte nicht nur, dass es die Welt nicht gibt, sondern auch, dass es außer der Welt alles gibt.
Das klingt vielleicht merkwürdig, kann aber überraschend leicht anhand unserer alltäglichen Erfahrungen illustriert werden. Stellen wir uns vor, wir treffen uns mit Freunden zu einem Abendessen im Restaurant. Gibt es hier nun einen Bereich, der alle anderen Bereiche umfasst? Können wir sozusagen einen Kreis um alles ziehen, was zu unserem Restaurantbesuch gehört? Nun, mal sehen: Wir sind vermutlich nicht die Einzigen im Restaurant. Es gibt also mehrere Restaurantbesucher an Tischen mit unterschiedlichen Gruppendynamiken, Präferenzen und so weiter. Außerdem gibt es die Welt des Servicepersonals, der Restaurantbesitzerin, der Köche, aber auch der Insekten und Spinnen und der für uns unsichtbaren Bakterien, die sich im Restaurant aufhalten. Darüber hinaus gibt es Ereignisse auf subatomarer Ebene sowie Zellteilungen, Verdauungsstörungen und Hormonschwankungen. Einige dieser Ereignisse und Gegenstände hängen zusammen, andere überhaupt nicht. Was weiß die von allen unbemerkte Spinne im Deckengebälk schon von meiner guten Laune oder von meinen Speisepräferenzen? Und dennoch gehört die Spinne zum Restaurantbesuch hinzu, wenn auch meist unerkannt. Dasselbe gilt für Verdauungsstörungen, die man auch nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
Es gibt beim Restaurantbesuch also viele Gegenstandsbereiche, gleichsam kleine isolierte Welten, die nebeneinander existieren, ohne dass sie wirklich zueinanderfinden. Es gibt also viele kleine Welten, aber nicht die eine Welt, zu der sie alle gehören. Dies bedeutet gerade nicht, dass die vielen kleinen Welten nur Perspektiven auf die eine Welt sind, sondern dass es eben nur die vielen kleinen Welten gibt. Es gibt sie wirklich, nicht nur in meiner Einbildung.
Genau in diesem Sinne kann man meine Behauptung verstehen, dass es die Welt nicht gibt. Es ist einfach falsch, dass alles mit allem zusammenhängt. Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!), dass alles mit allem zusammenhängt. Natürlich stiftet jeder Einzelne von uns andauernd Zusammenhänge. Wir erzeugen Selbst- und Umgebungsbilder, wir verorten unsere Interessen in unserer Umwelt. Wenn wir etwa hungrig sind, erstellen wir eine Futterkarte unserer Umgebung – die Welt wird zum Futtertrog. In anderen Augenblicken folgen wir aufmerksam einem Gedankengang (ich hoffe, dies ist gerade ein solcher Augenblick). In wieder anderen Augenblicken haben wir ganz andere Ziele. Dabei machen wir uns vor, dass wir uns immer in derselben Welt bewegen, was eine Voraussetzung dafür ist, dass wir uns hinreichend wichtig nehmen. Unsere alltäglichen Geschäfte kommen uns wie einem Kleinkind unendlich bedeutend vor, und in gewisser Weise sind sie es auch. Denn wir haben nur ein einziges Leben, das sich nun einmal in einem zeitlich sehr begrenzten Ereignishorizont vollzieht. Doch erinnern wir uns: In der Kindheit waren uns Dinge unendlich wichtig, die wir heute für Lappalien halten. Pusteblumen zum Beispiel. Auch in unserem eigenen Leben verschieben sich die Zusammenhänge andauernd. Wir verändern unser Selbst- und Umgebungsbild und passen uns in jedem Augenblick einer zuvor niemals da gewesenen Situation an.
Analog verhält es sich mit der Welt im Ganzen. Diese gibt es ebenso wenig wie einen Zusammenhang, der alle Zusammenhänge umfasst. Es gibt einfach keine Regel oder Weltformel, die alles beschreibt. Dies liegt nicht daran, dass wir sie bisher noch nicht gefunden haben, sondern daran, dass sie gar nicht existieren kann.
Weniger als nichts
Hier kommen wir zurück auf die Unterscheidung von Metaphysik, Konstruktivismus und Neuem Realismus. Die Metaphysiker behaupten, es gebe eine allumfassende Regel und die mutigeren unter ihnen behaupten auch, sie endlich gefunden zu haben. So folgt im Abendland schon seit beinahe dreitausend Jahren ein Weltformelfinder dem nächsten: von Thales von Milet bis hin zu Karl Marx oder Stephen Hawking.
Der Konstruktivismus hingegen behauptet, dass wir die Regel nicht erkennen können. Dabei befänden wir uns in Machtkämpfen oder kommunikativen Handlungen und versuchen in seinen Augen, uns darüber zu einigen, welche Illusion wir gerade gelten lassen wollen.
Der Neue Realismus versucht dagegen konsequent und ernsthaft die Frage zu beantworten, ob es eine solche Regel überhaupt geben könnte. Die Beantwortung dieser Frage ist dabei selbst nicht nur eine weitere Konstruktion. Stattdessen beansprucht sie – wie jede Antwort auf jede noch so alltägliche ernst gemeinte Frage – festzustellen, was der Fall ist. Es wäre merkwürdig, wenn Ihnen jemand auf die Frage, ob sich noch Butter im Kühlschrank befindet, antwortete: »Ja, wobei die Butter und der Kühlschrank eigentlich nur eine Illusion, eine menschliche Konstruktion sind. In Wahrheit gibt es weder Butter noch einen Kühlschrank. Zumindest wissen wir nicht, ob es sie gibt. Trotzdem guten Appetit!«
Um zu verstehen, warum es die Welt nicht gibt, muss man zunächst verstehen, was es überhaupt bedeutet, dass es etwas gibt. Es gibt nur dann überhaupt etwas, wenn es in der Welt vorkommt. Wo sollte es etwas geben, wenn nicht in der Welt, wenn wir darunter eben das Ganze verstehen, den Bereich, in dem alles stattfindet, was überhaupt stattfindet. Nun kommt die Welt selbst nicht in der Welt vor. Ich habe sie zumindest noch niemals gesehen, gefühlt oder geschmeckt. Und selbst wenn wir über die Welt nachdenken, ist die Welt, über die wir nachdenken, natürlich nicht identisch mit der Welt, in der wir nachdenken. Denn während ich etwa gerade über die Welt nachdenke, ist dies ein sehr kleines Ereignis in der Welt, mein kleiner Weltgedanke. Neben diesem gibt es noch unzählige andere Gegenstände und Ereignisse: Regenschauer, Zahnschmerzen und das Bundeskanzleramt.
Wenn wir also über die Welt nachdenken, ist dasjenige, was wir erfassen, etwas anderes als das, was wir erfassen wollten. Wir können niemals das Ganze erfassen. Es ist prinzipiell zu groß für jeden Gedanken. Dies ist aber kein bloßer Makel unserer Erkenntnisfähigkeit und hängt auch nicht unmittelbar damit zusammen, dass die Welt unendlich ist (das Unendliche können wir ja zumindest teilweise umfassen, etwa in der Form der Infinitesimalrechnung oder der Mengenlehre). Die Welt kann vielmehr prinzipiell nicht existieren, weil sie nicht in der Welt vorkommt.
Einerseits behaupte ich also, dass weniger existiert, als man erwartet hätte, denn die Welt existiert nicht. Es gibt sie nicht und kann sie nicht geben. Daraus werde ich wichtige Konsequenzen ziehen, die unter anderem gegen das wissenschaftliche Weltbild in seiner heute medial und gesellschaftspolitisch verbreiteten Version sprechen. Genau genommen werde ich gegen jedes Weltbild argumentieren. Denn man kann sich kein Bild von der Welt machen, weil sie nicht existiert.
Andererseits behaupte ich aber auch, dass erheblich mehr existiert, als man erwartet hätte, nämlich alles andere als die Welt. Ich behaupte, dass es Polizeiuniform tragende Einhörner auf der Rückseite des Mondes gibt. Denn dieser Gedanke existiert in der Welt und mit ihm die Polizeiuniform tragenden Einhörner. Im Universum dagegen kommen sie meines Wissens nicht vor. Die genannten Einhörner findet man nicht, indem man eine Mondreise bei der NASA bucht, um sie zu fotografieren. Doch wie steht es mit all den anderen Dingen, die es angeblich nicht gibt: Elfen, Hexen, Massenvernichtungswaffen in Luxemburg und so weiter? Diese kommen ja auch in der Welt vor, zum Beispiel in falschen Überzeugungen, Märchen oder Psychosen. Meine Antwort lautet: Es gibt auch alles, was es nicht gibt – nur gibt es dies alles nicht im selben Bereich. Elfen gibt es im Märchen, aber nicht in Hamburg, Massenvernichtungswaffen gibt es in den USA, aber – soweit ich weiß – nicht in Luxemburg. Die Frage ist also niemals einfach, ob es so etwas gibt, sondern immer auch, wo es so etwas gibt. Denn alles, was existiert, existiert irgendwo – und sei es nur in unserer Einbildung. Die einzige Ausnahme ist wiederum: die Welt. Diese können wir uns nicht einmal einbilden. Was wir uns einbilden, wenn wir an die Welt glauben, ist sozusagen »weniger als nichts«, wie ein Buchtitel des rebellischen Starphilosophen Slavoj Žižek lautet.4
In diesem Buch möchte ich Ihnen die Grundzüge einer neuen, realistischen Ontologie präsentieren. Es wird also nicht primär darum gehen, andere Theorien zu referieren – das werde ich nur dort tun, wo ein wenig Vorgeschichte zum besseren Verständnis hilfreich ist. Es handelt sich hier also nicht um eine allgemeine Einführung in die Philosophie oder eine Geschichte der Erkenntnistheorie, sondern um den Versuch, so allgemeinverständlich wie möglich eine neue Philosophie zu entwickeln. Man muss sich nicht erst durch nahezu unverständliche Klassiker der Philosophie durchbeißen, um zu verstehen, was hier vor sich geht. Stattdessen wollte ich dieses Buch so schreiben, dass es voraussetzungsfrei lesbar ist.
Es fängt, wie alle Philosophie, von vorne an. Deswegen werden unter anderem die wichtigsten Begriffe, die ich verwende, möglichst klar definiert. Diese Begriffe sind in Kapitälchen gesetzt, und ihre Bedeutung kann man im Glossar jederzeit nachschlagen. Ich verspreche Ihnen deswegen aufrichtig, dass aufgeblasene philosophische Wortmonster wie »die transzendentale Synthesis der Apperzeption« in diesem Buch nur in denjenigen Sätzen vorkommen, in denen ich Ihnen verspreche, dass sie in diesem Buch nicht vorkommen.
Ludwig Wittgenstein hat einmal gesagt: »Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen«5. Ich schließe mich diesem Ideal an, denn die Philosophie sollte keine elitäre Geheimwissenschaft, sondern ein weitgehend öffentliches Geschäft sein (selbst wenn sie manchmal recht umständlich tut). Ich beschränke mich deswegen darauf, Ihnen einen (wie ich finde) recht originellen Weg durch das Labyrinth der vielleicht größten philosophischen Fragen anzubieten: Woher kommen wir? Worin befinden wir uns? Und was soll das Ganze eigentlich?
Die Hoffnung, zu diesen Menschheitsfragen etwas wirklich Neues sagen zu können, erscheint vielleicht naiv, aber andererseits: Die Fragen selbst sind naiv. Es sind nicht selten Kinder, die sie stellen – und hoffentlich nie damit aufhören werden. Die ersten beiden philosophischen Fragen, die ich mir gestellt habe, sind mir beide auf dem Nachhauseweg von der Grundschule eingefallen, und sie haben mich niemals losgelassen. Einmal ist mir ein Regentropfen ins Auge gefallen, und ich habe eine Laterne dadurch doppelt gesehen. Also stellte ich mir die Frage, ob da nun eigentlich nur eine oder zwei Laternen seien. Und ob und wie weit ich meinen Sinnen trauen könnte. Die andere Frage überfiel mich, als ich mir plötzlich klarmachte, dass die Zeit vergeht und dass ich mit dem Wort »jetzt« völlig verschiedene Situationen bezeichnete. In diesem Augenblick bin ich wohl auf den Gedanken gekommen, dass es die Welt nicht gibt, wobei ich gut zwanzig Jahre benötigt habe, um diesen Gedanken philosophisch zu durchdringen und von dem Gedanken zu unterscheiden, dass alles nur eine Illusion ist.
Mittlerweile lehre ich seit einigen Jahren das Fach Philosophie an verschiedenen Universitäten und habe bei unzähligen Gelegenheiten mit Forschern aus aller Welt über die Probleme der Erkenntnistheorie und der philosophischen Skepsis (meine Forschungsschwerpunkte) gestritten. Es dürfte Sie kaum überraschen, dass ich so ziemlich alles in Zweifel gezogen habe, was mir begegnet ist (am häufigsten vielleicht die eigenen Überzeugungen). Aber eines ist mir dabei immer klarer geworden: Die Aufgabe der Philosophie ist es, immer wieder von vorne anzufangen, und das jedes Mal.
1 Vgl. zu den sozusagen »historischen« Details das bisher leider nur auf Italienisch erschienene Buch Maurizio Ferraris, Manifesto del nuovo realismo, Rom 2012.
2 Als Einführung in diese Zusammenhänge sei Terry Eagletons Der Sinn des Lebens (Berlin 2008) empfohlen.
3 Heinrich von Kleist, Sämtliche Briefe, hrsg. von Dieter Heimböckel, Stuttgart 1999, S. 213, Brief vom 22. 03. 1801 an Wilhelmine von Zenge.
4 Slavoj Žižek, Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London 2012.
5 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Ders., Werkausgabe, Frankfurt/Main 2006, Bd. 1, S. 9.
I. Was ist das eigentlich, die Welt?
Fangen wir also wieder von vorne an! Was soll das Ganze? Dies ist die philosophische Grundfrage schlechthin. Eines Tages sind wir zur Welt gekommen, ohne zu wissen, woher noch wohin. Dann haben wir uns durch Erziehung und Gewöhnung in die Welt hineingefunden. Und sobald wir uns einmal an die Welt gewöhnt hatten, vergaßen wir meist zu fragen, was das Ganze soll. Was ist das eigentlich, die Welt?
In unserem Leben ergeben unsere Begegnungen, unsere Hoffnungen und Wünsche in der Regel Sinn. Ich sitze beispielsweise gerade in einem Zugabteil in Dänemark. Neben mir schreibt jemand eine SMS, der Schaffner geht auf und ab, und hin und wieder höre ich eine Durchsage auf Dänisch. All dies ergibt Sinn: Denn ich reise nach Århus, eine Stadt im Norden Dänemarks, dabei benutze ich einen Zug und erlebe auf der Fahrt, was nun einmal zu einer Zugfahrt gehört. Nun stellen wir uns aber vor, ein außerirdisches Wesen, das sieben Meter zwanzig groß ist und aus einer grünen Flüssigkeit besteht, kommt auf die Erde und steigt in denselben Zug ein. Diesem Wesen erschiene alles wohl sehr merkwürdig, vermutlich sogar völlig unverständlich. Es kriecht durch die engen Gänge meines Abteils und wundert sich über all die neuen Eindrücke (und ganz besonders über die haarigen Tiere, die in den Nischen sitzen und verstört mit den Fingern über einen kleinen Bildschirm wischen).
Philosophen betrachten die Welt gewissermaßen wie Außerirdische oder wie Kinder. Alles ist immer wieder völlig neu. Sie misstrauen fest verwurzelten Urteilen, ja, sie misstrauen sogar den Wissensansprüchen von Experten. Philosophen glauben zunächst einmal überhaupt nichts. Darin folgen wir dem Vorbild eines großen philosophischen Helden: Sokrates. In seiner berühmten Verteidigungsrede vor einem Athener Gericht hat Sokrates erklärt: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«6 Daran hat sich zumindest für die Philosophen nichts geändert.
Dennoch kann man von der Philosophie sehr viel lernen, insbesondere kann man lernen, niemals zu vergessen, dass die Welt ganz anders sein könnte, als sie uns erscheint. Philosophie stellt alles ständig in Frage, auch die Philosophie selbst. Und nur auf diese Weise besteht eine Chance zu verstehen, was das Ganze eigentlich soll. Beschäftigt man sich intensiv mit Philosophie und ihren großen Fragen, dann lernt man, vermeintlich Selbstverständliches zu überprüfen – eine Haltung, die übrigens hinter fast allen großen Errungenschaften der Menschheit steht. Hätte niemals jemand die Frage gestellt, wie wir überhaupt zusammenleben sollten, wäre es auch niemals zur Demokratie und zur Idee freier Gemeinwesen gekommen. Hätte niemals jemand gefragt, wo wir uns eigentlich befinden, wüssten wir noch nicht einmal, dass die Erde rund und der Mond nur ein herumfliegender Stein ist. Für diese Behauptung wurde der griechische Philosoph Anaxagoras noch wegen Gotteslästerung angeklagt. Und Giordano Bruno, der größte italienische Philosoph, wurde als Ketzer verurteilt, weil er der Meinung war, es gebe Außerirdische und das Universum sei unendlich. Dies schien unverträglich mit der christlichen Theologie, die annahm, dass der Mensch und die Erde im Zentrum von Gottes Interesse stünden und Gott das Universum zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen hat (weswegen es nicht unendlich sein durfte).
Die Leitfrage dieses Buches ist also die Frage, was das Ganze soll. Haben das menschliche Leben, die menschliche Geschichte und die menschliche Erkenntnis überhaupt einen Sinn? Sind wir nicht einfach nur Tiere auf irgendeinem Planeten, so eine Art kosmische Ameisen oder Schweine im Weltall? Sind wir selbst einfach nur sehr merkwürdige Wesen, die für sehr merkwürdige Außerirdische so beängstigend sind wie für uns die Aliens aus den gleichnamigen Filmen? Wenn wir herausfinden wollen, was das Ganze soll, müssen wir zunächst einmal alles vergessen, was wir zu wissen glauben, und von vorn anfangen. René Descartes hat die philosophische Grundhaltung zu Recht dadurch charakterisiert, dass man zumindest einmal in seinem Leben an allem, woran man sonst glaubt, zweifeln sollte. Hängen wir also einmal unsere gewohnten Überzeugungen an den Nagel und fragen – wie Außerirdische oder wie Kinder –, wo wir uns eigentlich befinden. Denn bevor wir uns die Frage stellen, was das Ganze eigentlich soll, scheint es sinnvoll zu sein, die Frage zu beantworten, was das Ganze eigentlich ist.
In Buddhas kleiner Finger (2009), einem vielgelesenen russischen Roman der Gegenwart, stellt eine Figur mit dem bezeichnenden Namen Pjotr Pustota (dt. Peter Leere) die folgende Überlegung an: Moskau befindet sich in Russland; Russland befindet sich auf zwei Kontinenten; die Kontinente befinden sich auf der Erde; die Erde befindet sich in der Milchstraße und die Milchstraße im Universum. Doch wo befindet sich das Universum? Wo befindet sich der Bereich, in dem sich all das Genannte befindet? Befindet er sich etwa nur in unseren Gedanken, die über diesen Bereich nachdenken? Aber wo befinden sich dann unsere Gedanken? Wenn sich das Universum in unseren Gedanken befindet, können diese sich nicht im Universum befinden. Oder doch? Belauschen wir die beiden Protagonisten bei ihrem sokratischen Gespräch:
Wir stießen an und tranken. »Wo ist die Erde?« »Im All.« »Und wo ist das All?« Ich überlegte einen Moment. »In sich.« »Wo liegt dieses ›in sich‹?« »In meinem Bewusstsein.« »Daraus folgt, Petka, dein Bewusstsein steckt in deinem Bewusstsein.« »Das folgt daraus, ja.« »So«, sagte Tschapajew und strich sich den Schnurrbart glatt, »jetzt hör mir mal genau zu. An welchem Ort befindet es sich?« »Ich verstehe nicht ganz … Der Ortsbegriff ist auch eine Kategorie des Bewusstseins, so dass …« »Wo ist der Ort? An welchem Ort befindet sich der Ortsbegriff?« »Sagen wir, an gar keinem Ort. Besser wäre zu sagen, die Reali…« Ich sprach nicht zu Ende. So läuft der Hase!, dachte ich. Gebrauchte ich das Wort »Realität«, würde er mir wieder mit meinen Gedanken kommen und mich fragen, wo sie sind. Und sagte ich dann, sie seien im Kopf … ein ewiges Pingpong.7
Damit hat Peter den schwindelerregenden Gedanken, dass es die Welt nicht gibt, erfasst. Letztlich findet alles in einem großen Nirgendwo statt. Der Originaltitel des Romans lautet in einer buchstäblicheren Übersetzung Tschapajew und die Leere, und sein inzwischen weltberühmter Autor, der russische Schriftsteller Viktor Olegovič Pelevin, gibt uns mit dem Titel eine Antwort auf die Frage, wo wir uns befinden: Wir befinden uns im Universum, und dieses befindet sich in der Leere, im Nirgendwo. Alles ist von einer großen Leere umgeben, was an die Unendliche Geschichte von Michael Ende erinnert, in der die kindliche Phantasiewelt, Phantásien, bekanntlich ständig davon bedroht ist, vom Nichts verschlungen zu werden. Alles findet nur in unserer Phantasie statt, und außerhalb dieser befindet sich das Nichts, das unsere Phantasien bedroht. Deswegen, so lautet bekanntlich die Botschaft des Romans, müssen wir die kindliche Phantasiewelt hegen und pflegen und dürfen auch als Erwachsene nicht aufhören zu träumen, da wir sonst dem Nichts verfallen, einer völlig bedeutungslosen Realität, in der nichts mehr einen Sinn ergibt.
Die Philosophie beschäftigt sich mit den Fragen, die durch Romane wie Buddhas kleiner Finger, die Unendliche Geschichte, durch Filme wie Christopher Nolans Inception oder Rainer Werner Faßbinders unvergleichlich besserem Vorläufer von Matrix, dem Fernsehfilm Welt am Draht, aufgeworfen werden. Diese Fragen wurden nicht erst in postmodernen Romanen oder der Popkultur des 20. und 21. Jahrhunderts gestellt. Die Frage, ob die Wirklichkeit nur eine Art gigantischer Illusion, ein bloßer Traum ist, hat tiefe Spuren in der menschlichen Geistesgeschichte hinterlassen. Sie wird seit Jahrtausenden überall dort gestellt, wo es Religion, Philosophie, Dichtung, Malerei und Wissenschaft gibt.
Auch die moderne Naturwissenschaft stellt einen großen Teil der Wirklichkeit in Frage, nämlich diejenige Wirklichkeit, die wir sinnlich erfahren. Galileo Galilei etwa, ein weiterer verurteilter italienischer Ketzer, hat schon in der Frühen Neuzeit bezweifelt, dass es Farben unabhängig von unseren Empfindungen gibt, und behauptet, dass die Wirklichkeit farblos sei und aus mathematisch beschreibbaren materiellen Gegenständen und ihren Ortsveränderungen bestünde. Die moderne theoretische Physik ist sogar noch radikaler. Die sogenannten Stringtheoretiker nehmen an, dass die physische Wirklichkeit letztlich nicht einmal mehr raumzeitlich in irgendeinem uns vertrauten Sinne ist. Es könnte sich zumindest bei der vierdimensionalen Raumzeit um eine Art Hologramm handeln, das von höheren Dimensionen aus durch bestimmte in physikalischen Gleichungen beschreibbare Vorgänge projiziert wird.8
Dass die Wirklichkeit anders ist, als sie scheint, ist dem modernen Menschen ein vertrauter Gedanke, der uns bereits in der Schule nahegebracht wird – wenn wir etwa zum ersten Mal verwundert feststellen, dass man mit Buchstaben rechnen kann. Oder auf Reisen, wenn wir uns gezwungen sehen, tiefsitzende Vorurteile zu revidieren. Wenn so viele Gegenstände bei genauerem Hinsehen fragwürdig sind, wenn alles Wissen in eine Art tiefes Nichtwissen eingehüllt zu sein scheint, warum vertrauen wir dann überhaupt noch auf die Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, auf die Welt, in der wir zu leben scheinen?
Du und das Universum
In diesem Kapitel möchte ich die Frage, wo eigentlich alles stattfindet, genauer untersuchen und philosophisch beantworten. Um diese Frage vernünftig zu beantworten, müssen wir erst einmal zwei Begriffe unterscheiden, bei denen heute in der Wissenschaft, im Alltag, aber auch in der Philosophie ein ziemliches Durcheinander herrscht; ich meine die Begriffe Welt und Universum. Beginnen wir mit dem Universum.
Dieser Begriff wird derzeit mystisch und religiös aufgeladen. Zum Beispiel in esoterischen Bestsellern wie Bestellungen beim Universum oder zeitgenössischen Filmen und Fernsehserien (besonders häufig etwa in der populären Sitcom How I Met Your Mother) wird das Universum als Ort des Schicksals angesehen: Das Universum will etwas von uns oder teilt uns etwas mit. Das Universum steht hier für das maximale Ganze, in dem wir uns befinden. Wenn wir uns fragen, was die Realität, die Wirklichkeit, die Welt, der Kosmos oder das Universum sind, fragen wir ziemlich vage danach, was das Ganze ist, und wundern uns anschließend darüber, was es eigentlich soll.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Frage, was das Ganze überhaupt ist, hängen also offensichtlich eng zusammen. Wenn man davon ausgeht, das Ganze sei eigentlich nur ein riesiger Haufen subatomarer Partikel oder noch viel verrückterer Strukturen – etwa eine Unzahl von sogenannten Strings, die in zehn Raum- und einer Zeitdimension zittern und je nach Frequenz etwa als Elektron oder als was auch immer erscheinen –, hat man es entsprechend schwer, einen Sinn daraus zu schlagen, weil unser Leben selbst als eine Illusion, als bloßer Effekt geistloser Teilchen erscheint. Wenn ich annehme, dass ich nur ein Haufen zitternder Strings bin, der sich einbildet, ein Mensch mit bestimmten Interessen, Plänen, Wünschen, Ängsten usw. zu sein, hat mich das Nichts aus der Unendlichen Geschichte bereits eingeholt.
Wenn wir vom Universum sprechen, geben wir damit implizit bereits eine Antwort auf die Frage, was das Ganze ist, in dem wir uns befinden. Anders als so mancher Esoteriker stellen wir uns das Universum in der Regel als eine gigantische Anhäufung von Galaxien und sonstigen astronomischen Gebilden vor, die vor einem dunklen Hintergrund aufleuchten. Unser Bild vom Universum sieht aus wie ein gigantisch großes Foto, das von einer Art Hubbleteleskop aus aufgenommen wurde. Und in diesem Universum kommen wir auch selbst an irgendeinem Punkt vor – genau genommen auf dem dritten Planeten eines Sonnensystems, das gemeinsam mit etwa 400 Milliarden weiteren Sternen Teil des Milchstraßensystems ist.
Dies scheint auf den ersten Blick eine verhältnismäßig unproblematische Ortsangabe zu sein. Etwa von der Art: Ich sitze in meinem Wohnzimmer auf der Helenenbergstraße in Sinzig am Rhein. Aber das täuscht. Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob wir über Wohnzimmer oder Planeten sprechen. Planeten und Galaxien sind nämlich Gegenstände der Astronomie und damit der Physik, Wohnzimmer nicht. Zum Unterschied zwischen Wohnzimmern und Planeten gehört, dass wir Wohnzimmer einrichten, dort essen, bügeln oder Fernsehen gucken, während wir Planeten beobachten, ihre chemische Zusammensetzung durch aufwendige Experimente messen, ihre Entfernung zu anderen astronomischen Gebilden bestimmen und vieles mehr. In der Physik geht es niemals um Wohnzimmer, sondern allenfalls um Gegenstände in Wohnzimmern, sofern diese unter die Naturgesetze fallen. Wohnzimmer kommen in der Physik schlicht nicht vor, Planeten schon.
Wohnzimmer und Planeten gehören demnach gar nicht zum selben Gegenstandsbereich. Ein Gegenstandsbereich ist ein Bereich, der eine bestimmte Art von Gegenständen enthält, wobei Regeln feststehen, die diese Gegenstände miteinander verbinden. So gibt es etwa den Gegenstandsbereich der Politik. Zu diesem Gegenstandsbereich gehören Wähler, Gemeindefeste, die sogenannte Basis der Parteien, Steuergelder und vieles mehr. Es gibt auch den Bereich der natürlichen Zahlen, zu dem etwa die Zahlen 7 und 5 gehören und für den gewisse grundlegende arithmetische Gesetze gelten. Gegenstandsbereiche sind dabei nicht notwendig räumlich umgrenzt. Der Bürgermeister von Oberwesel kann am Wochenende nach London reisen, ohne dass er damit aufhört, Bürgermeister von Oberwesel zu sein. Was zu einem Gegenstandsbereich gehört, wird durch bestimmte Regeln oder Gesetze festgelegt. Einige dieser Regeln sind lokal und räumlich. So gehören die fünf Finger meiner linken Hand zum Gegenstandsbereich meiner linken Hand. Wenn etwa zwei Finger in Århus bleiben sollten, während ich nach Bonn reise, hörten die in Århus verbliebenen Finger schnell auf, zum Gegenstandsbereich meiner linken Hand zu gehören.
Erstens kommen alle Gegenstände in Gegenstandsbereichen vor, und zweitens gibt es viele Gegenstandsbereiche. Wohnzimmer sind Gegenstandsbereiche; es ist zu erwarten, dass bestimmte Gegenstände in ihnen vorkommen: Fernseher, Sessel, Leselampen, Couchtische oder Kaffeeflecken etwa. Galaxien sind ebenfalls Gegenstandsbereiche; doch in ihnen erwarten wir keine Leselampen oder Kaffeeflecken vorzufinden, sondern Sterne, Planeten, Dunkle Materie, Schwarze Löcher und vieles mehr. Stadtgemeinden beherbergen wiederum andere Gegenstände: Beamte, Aktenordner, Gesetze, Budgets und Langeweile.
Es gibt also viele Gegenstandsbereiche, und wir sind unter alltäglichen Bedingungen auch ohne weiteres imstande, sie zu unterscheiden. Wir wissen, was uns erwartet, wenn wir ein Amt der Stadtgemeinde betreten: Man muss einen kleinen Zettel ziehen oder sich in eine Menge wartender Bürger einordnen, zu bestimmten Uhrzeiten muss man länger warten als zu anderen, und es gibt bestimmte, wichtige Unterlagen, die wir aber natürlich zu Hause vergessen haben. Im Gegenstandsbereich eines solchen Amtsbesuchs kommen hingegen keine physikalischen Gegenstände im engeren Sinne vor. Es geht beim Amtsbesuch nicht um Elektronen und auch nicht um chemische Verbindungen. Zwar kann man ein Büro auch chemisch analysieren, die präzise Entfernung zwischen zwei Punkten oder die Geschwindigkeit bestimmter Gegenstände im Raum messen (etwa die Geschwindigkeit von Uhrzeigern oder von rollenden Schreibtischstühlen). Doch eine solche Untersuchung wäre etwas anderes als ein Amtsbesuch. Die physikalische oder chemische Analyse einer bestimmten Raumzeitstelle, die von einem Büro eingenommen wird, ist keine Analyse des Büros mehr, da die Gegenstände, die zu einem Büro gehören, als solche nicht in der Physik oder Chemie vorkommen. Dies liegt daran, dass Büroklammern oder Beamte nicht in der Physik studiert werden. Dort geht es um Bewegung, Geschwindigkeit, Ursache und Wirkung und vieles mehr, aber nicht um Beamte oder die genaue Anzahl von Büroklammern, die täglich verwendet werden. Deswegen studiert man in der Physik oder Chemie auch nicht buchstäblich alles. Wer gerne ein physikalisches Forschungsprojekt über Goethes Faust einrichten möchte, wird Probleme haben, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft Drittmittel einzuwerben. Der Grund dafür ist, dass es in der Physik nicht um den Inhalt von Faust, sondern höchstens um die Gegenstände (Atome, Moleküle und so weiter) geht, aus denen Bücher oder sonstige Dokumente bestehen, die den Inhalt von Faust speichern.
Kommen wir zu unserer ursprünglichen Verortung im Universum zurück! Wir meinten, unser Wohnzimmer befinde sich im Universum. Doch das stimmt so nicht. Denn das Universum ist bei genauerem Hinsehen lediglich der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik. Halten wir also fest: Das Universum ist primär etwas, in dem alles vorkommt, was sich experimentell mit den Methoden der Naturwissenschaften untersuchen lässt. Vielleicht handelt es sich beim Universum um die vierdimensionale Raumzeit, was aber nicht ganz sicher ist, weshalb ich die Frage, was genau im Universum vorkommt, auch primär den Physikern überlasse. Als Philosoph kann man aber urteilen, dass das Universum nicht alles ist, da es eben nur der Gegenstandsbereich oder der Untersuchungsbereich der Physik ist. Da die Physik so wie jede andere Wissenschaft auch für all das blind ist, was sie nicht untersucht, ist das Universum kleiner als das Ganze. Das Universum ist nur ein Teil des Ganzen und nicht das Ganze selbst.
Gabriel, Markus (2013-06-09T23:58:59). Warum es die Welt nicht gibt (German Edition) (Kindle-Positionen56-424). Ullstein eBooks. Kindle-Version.
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