Die Stufen von Bewusstsein und Kultur nach Steve McIntosh

Aus: Integrales Bewusstsein und die Zukunft der Evolution

Wie die Integrale Weltsicht Politik, Kultur und Spiritualität transformiert
Steve McIntosh, 2009
3. Kapitel

 

Die Stufen von Bewusstsein und Kultur

 

lm Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die westliche Welt von den Schriften des berühmten deutschen Philosophen Georg Friedrich Hegel bewegt. Während die Philosophen der Aufklärung zu zeigen versuchten, dass die Welt das Ergebnis göttlicher Schöpfung sei (indem sie die mathematische Rationalität, die in der Natur gefunden werden kann, aufzeigten), ging Hegel weiter und demonstrierte, dass intelligente und göttliche Ordnung auch in der Entwicklung der menschlichen Geschichte gefunden werden kann. Trotz der Widersprüche und dem Chaos, die im Verlauf der menschlichen Geschichte gefunden werden können, zeigt Hegel, wie die Geschichte sich durch einen dialektischen Prozess entfaltet, indem Konflikte die Transformation zu höheren Stufen der Organisation möglich machen. Und wenn Hegels Einfluss sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abschwächte, wurde sein vorweggenommenes Verständnis der dialektischen Struktur der Geschichte im 20. Jahrhundert durch Forschung in den Sozialwissenschaften und besonders in der Entwicklungspsychologie bestätigt.
Die Entwicklungspsychologie ist eine wichtige Grundlage der integralen Philosophie, denn sie offenbart die stufenweise Entwicklung der geschichtlich bedeutenden Strukturen verschiedener Weltsichten. Das heißt, die Strukturen, die das Bewusstsein organisieren, sind direkt mit den Stufen der menschlichen Geschichte verbunden. Und wie wir in diesem und dem nächsten Kapitel untersuchen werden, ist die vertikale Perspektive, die die Stufen der menschlichen Geschichtsentwicklung im Geist der einzelnen Menschen sehen kann, der Dreh und Angelpunkt des integralen Bewusstseins. Wir hatten alle eine direkte Erfahrung der Entwicklung unseres eigenen Bewusstseins, denn wir sind alle aus der Kindheit heraus erwachsen geworden. Unsere Erfahrung dieser Entwicklung schließt auch die Empfindung mit ein, dass unsere Werte sich entwickelt haben, dass unsere Perspektiven sich verändert haben, dass unsere Gedanken, Gefühle und unser Selbst sich weiter entwickelt haben und komplexer geworden sind. Der große Beitrag der Entwicklungspsychologie ist, dass sie aufgezeigt hat, wie dieses Bewusstseinswachstum durch bestimmbare universelle Entwicklungsstufen voranschreitet. Und auch, wenn wir erwachsen geworden sind, wird Entwicklung weiter von einer Abfolge bestimmter Stufen oder Wellen geleitet.

 

Die Anfänge der Entwicklungspsychologie können bis zur Arbeit des amerikanischen Psychologen James Mark Baldwin zu Beginn des letzten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Baldwin war einer der Ersten, der die mentale und emotionale Entwicklung von Kindern und Erwachsenen wissenschaftlich erforschte. In seiner Arbeit beobachtete er, dass der menschliche Geist sich entlang bestimmter, definierbarer Linien entwickelt. Er identifizierte diese Linien als die rationale oder logische, die ästhetische oder emotionale und die moralische oder ethische Linie. Baldwins Untersuchungen zeigten auch, dass dieses Wachstum des menschlichen Bewusstseins von bestimmten Entwicklungsstufen charakterisiert ist. Und dieselben Stufen wurden von vielen psychologischen Forschern des 20. Jahrhunderts entdeckt, als sie die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins untersuchten.

 

Auch wenn die Beschreibungen der Entwicklungsstufen nicht immer identisch waren, gibt es heute eine zunehmende Zustimmung unter akademischen Psychologen darüber, dass die Bewusstseinsentwicklung sich durch eine Abfolge kulturübergreifender Ebenen oder Wellen vollzieht.

 

Trotz der Ablehnung durch materialistische oder postmoderne Schulen der Psychologie hat die Entwicklungspsychologie in der Psychologie als Ganzem immer mehr an Einfluss gewonnen. Tatsächlich fühlten sich einige der bekanntesten Psychologen der Idee fortschreitender Stufen der menschlichen Entwicklung verpflichtet. Unter diesen Forschern sind zum Beispiel Jean Piaget, Lawrence Kohlberg, Jane Loevinger und Abraham Maslow. Der vermutlich bekannteste heute lebende Entwicklungspsychologe ist Robert Kegan von der Harvard University, dessen Arbeit sehr sorgfältig über einhundert Jahre Forschung auf diesem Gebiet berücksichtigt. Aber Kegans Ideen sind unter seinen postmodernen Kollegen nicht immer populär, die immer noch die Idee zurückweisen, dass einige Typen des Bewusstseins weiter entwickelt sind als andere. Anders als horizontale psychologische Typologien, so wie das System der Persönlichkeitstypen von Myers-Briggs oder das Enneagramm - die nur verschiedene Typen erkennen und nicht werten- sind Kegans Ideen über die Entwicklung des Bewusstseins ausgesprochen hierarchisch. Aber Kegan selbst weiß um die Gefahren solch einer Theorie, wenn er schreibt:

 

„[Weil die Entwicklungspsychologie] eine Geschichte zunehmender oder größerer Komplexität erzählt, [ist sie] deshalb provokativer, unangenehmer, sogar gefährlicher und erweckt verständlicherweise mehr Skepsis. Immer wenn  eine Theorie normativ ist und sagt, dass etwas entwickelter  oder fortgeschrittener ist als etwas anderes, müssen wir  prüfen, ob diese Unterscheidungen auf einer beliebigen  Grundlage basieren, die bewusst oder unbewusst in  unfairer Weise bestimmte Menschen bevorteilen (so wie  diejenigen, welche die Theorie geschaffen haben und alle,  die ihnen gleich sind) und deren Verhalten als überlegen  angesehen wird. Wir müssen prüfen, ob etwas, das sogar  als „objektive“ Theorie erscheint, nicht in Wirklichkeit ein  Instrument oder Mittel einer „Macht habenden” Gruppe ist  (wie zum Beispiel Weiße, Männer oder westliche Menschen), die die Theorie benutzen, um ihre Vorteilhafte Position zu sichern.“

 

Nun fährt Kegan natürlich damit fort, zu zeigen, dass die Entwicklungspsychologie diesen Test besteht und dass ihre Erkenntnisse selbst  nicht einseitig oder unfair sind. Und wie wir am Ende dieses Kapitels  sehen werden, wird die Tatsache, dass sich das Bewusstsein durch  bestimmte Stufen hindurch entwickelt, von immer mehr Forschern  angenommen. 

 

Die Entwicklungspsychologie ist ein Gebiet, dass von vielen Wissenschaftlern untersucht wurde, aber unter den Entwicklungspsychologen verdankt die integrale Psychologie vielleicht niemandem mehr als der  Arbeit des amerikanischen Psychologen Clare W. Graves. Graves' Forschung offenbarte die Existenz der gleichen schon bekannten Stufen psychologischer Entwicklung, die auch von früheren Forschern gefunden  wurden. Aber Graves' Arbeit ging weiter als die anderen Entwicklungspsychologen, indem er zeigte, wie diese nacheinander entstehenden  Stufen selbst in einem größeren dynamischen System organisiert sind.  Mit anderen Worten, Graves' Forschung zeigte nicht nur bestimmte, kulturübergreifende Bewusstseinsstufen, sie zeigte auch, wie diese Stufen  in einer dialektischen Spirale der Entwicklung miteinander in Beziehung  stehen - einem dynamischen System der Evolution. Durch sein Verständnis dieses größeren Systems von Entwicklung konnte Graves  erkennen, wie jede bestimmte Entwicklungsstufe durch die Beziehungen  zu den anderen Stufen beeinflusst und geformt wird. Und durch dieses  Verständnis der formgebenden Natur dieser Beziehungen zwischen den  Stufen war es Graves möglich, klar zwischen dem zu unterscheiden, was  ich das „postmoderne Bewusstsein” nennen werde und der gerade entstehenden „integralen Bewusstseinsstufe“.   

Mehr noch, obwohl andere Entwicklungsforscher bereits die Parallelen zwischen den Entwicklungsstufen im Bewusstsein der Individuen  und der stufenweisen Entwicklung von Geschichte und Kultur gezogen  hatten, zeigte die dialektische Struktur, die Graves entdeckte diese Parallelen so klar wie niemand vor ihm. Und indem er nicht nur die systemische Natur jeder individuellen Stufe erkannte, sondern auch wie all diese Stufen selbst in einem größeren umfassenden System miteinander  verbunden sind, konnte Graves zeigen, wie diese Entwicklungsebenen des Bewusstseins tatsächlich die Stufen der menschlichen Geschichte  wiederholen. Genauso wie in der biologischen Evolution, wo wir sehen,  wie der Embryo sich durch die Stufen des gesamten Lebensbaumes hindurch entwickelt, können wir nun sehen, dass auch in der Entwicklung  jedes menschlichen Geistes eine ungefähre Rekapitulation der Evolution  der kulturellen Geschichte des Menschen stattfindet. 

 

In der Nachfolge der Arbeit von Maslow studierte auch Graves die  Werte. Er bat die Teilnehmer seiner Studien, den für sie idealen Menschen zu beschreiben. Und nach Tausenden von Interviews über einen  Zeitraum von 20 Jahren sah Graves ein klares Muster - ein Muster, das  durch fortgesetzte Forschung und Erfahrung bestätigt und bewiesen  wird. Wie wir noch weiter im zweiten Teil des Buches betrachten  werden, zeigt Graves' Modell der „biologischen-psychologischen-sozialen” Evolution, dass jede Stufe ein in sich einheitliches System darstellt,  dass die Entwicklung von Werten, Weltsichten, Glaubenssystemen, neurologischer Aktivität und den allgemeinen „psychischen Schwerpunkt”  [center of gravity] eines Menschen umfasst. Graves' Modell dient als  eine wichtige Grundlage der integralen Weltsicht, weil es zeigt, wie der Einzelne und die Kultur im Ganzen (auf der Mikro- und Makroebene)  zusammen durch die gleichen Stufen und Strukturen evolvieren; weil es eine konzeptuelle und geometrische Harmonie zum Ausdruck bringt, welche die dialektische Methode des „Transzendierens und Einbeziehens”, mit der die Evolution arbeitet, klar zum Ausdruck bringt; und vor  allem weil es die Natur, das Verhalten und die notwendigen Ursachen  der neu entstehenden integralen Entwicklungsstufe benennt.

 

Nach seinem Tod im Jahre 1986 wurde Graves' Arbeit von seinem  Kollegen Don Beck weitergeführt, der Graves' Ideen in seiner Arbeit mit den Führungspersönlichkeiten in Südafrika (sowohl aus der weißen als  auch aus der schwarzen Bevölkerung) in der Zeit der Überwindung der Apartheid anwendete. Beck und sein Kollege Christopher Cowan schrieben später das einflussreiche Buch Spiral Dynamics, das Graves'  Arbeit einem größeren Publikum zugänglich machte.   
Bevor wir uns aber den Einzelheiten der Entwicklungsspirale zuwenden, möchte ich eine Vorbemerkung Vorausschicken. Die systemischen Strukturen des inneren Universums sind subtil und komplex.  Man vergleicht sie besser mit den Strömungen in einem Ozean als mit  Architektur. Die Idee einer „Bewusstseinsstufe” müssen wir vorsichtig  verwenden und nicht als ein materielles Objekt verstehen, sondern als ein Muster von Beziehungen, das systemische Merkmale zum Ausdruck bringt. Ein erstes Verstehen der Bewusstseinsstufen wird durch die nun folgenden Ausführungen möglich. Aber dieses Verständnis zu verwenden, um weitere kulturelle Evolution zu fördern, setzt eine Praxis  des Sehens voraus, die Vereinfachungen, Verurteilungen und Stereotypen vermeidet. Wie Sie selbst sehen werden, sind die Bewusstseinsstufen real; aber was jetzt folgt, ist eine Beschreibung ihrer Realität auf einer Ebene der Verallgemeinerung, die ihre Anwendbarkeit unterstützt.  Ich empfehle Ihnen nach dem Lesen der Grundlagen, die Beschreibung  der Entwicklungsspirale im Lichte der Betrachtungen über „Die Strukturen des menschlichen Geistes” im 9. Kapitel noch einmal zu überdenken. Das 9. Kapitel fasst die nun folgende Beschreibung der  Bewusstseinsstufen zusammen und untersucht die reiche Komplexität  dieser Strukturen und die akademische Debatte, die ihre Entdeckung ausgelöst hat. 

 

Die Spirale der Entwicklung 

Nach Ansicht der integralen Philosophie beinhaltet jede Bewusstseinsstufe ihre eigene natürliche Erkenntnistheorie, eine organische Form  der Sinngebung innerhalb ihrer spezifischen Weltsicht, die aus  bestimmten problematischen Lebensbedingungen und den korrespondierenden Lösungen besteht. Diese Stufen dienen als dynamische lebende Systeme, die gleichermaßen ganze menschliche Gesellschaften  und den Geist von Einzelnen organisieren, die an diesen Gesellschaften teilhaben. In Graves' Worten:  "Jede weitere Stufe, Welle oder Ebene der Existenz ist ein  Zustand, durch den Menschen auf ihren Weg zu anderen  Seinszuständen hindurchgehen. Wenn der Mensch in  einem Zustand der Existenz gefestigt ist, hat er oder sie die  Psychologie, die für diesen bestimmten Zustand typisch ist.  Seine oder ihre Gefühle, Motivationen, Glaubenssysteme, Bildung, Ökonomie und politische Theorie und Praxis  sind alle diesem Zustand angemessen." 
Diese Wertesysteme dienen zur Organisation des Bewusstseins eines  Menschen, denn sie beinhalten Zugehörigkeit und geben Identität, sie  nähren das Bewusstsein und tragen zu seinem Selbstgefühl bei.

 

Jede Bewusstseinsstufe entsteht als Antwort auf die grundlegenden  Probleme ihrer Zeit. Deshalb resultieren die problematischen Lebensbedingungen des primitiven Überlebens in einer bestimmten Bewusstseinsstufe, wohingegen die Probleme der modernen Welt eine andere  Antwort erfordern. Diese Stufen beschreiben keine „Typen von Menschen“, sie beschreiben Bewusstseinstypen in Menschen. Natürlich gibt es  Menschen, in denen diese Stufen exemplarisch deutlich werden und  andere, bei denen eine Kategorisierung schwerfällt. In den entwickelten  Ländern sind die meisten Menschen zu verschiedenen Zeiten in mehr als  einer dieser Stufen. Für die meisten von uns klingen diese Ebenen mehr  in Akkorden als in einzelnen Noten. Aber trotzdem finden die meisten  Menschen einen allgemeinen „Schwerpunkt”, der innerhalb einer spezifischen Ebene identifiziert werden kann. Wie in der Illustration in Bild 3-1 dargestellt, zeigen die Beziehungen zwischen den Stufen, wie jede von ihnen in einem größeren allgemeinen System organisiert ist, und dieses  System zeigt das unverkennbare Muster einer dialektischen, logarithmischen Spirale oder Helix. 

 

Die Struktur der Spirale ist dialektisch, weil ihre Entwicklung das bekannte Muster von These, Antithese und Synthese zum Ausdruck  bringt. Das ist das gleiche Muster dialektischer Entwicklung, das  ursprünglich vor 200 Jahren von Hegel erkannt wurde. Diese dialektische Beziehung zwischen den Stufen wird dann sichtbar, wenn wir  jede Stufe als antithetische Reaktion auf die Probleme der vorangegangenen Stufe betrachten. Und wenn die Stufen sich in der Spirale als  Ganzes entfalten, können wir sehen, wie die Themen früherer Stufen in  späteren Stufen wiederholt werden, aber mit einem höheren Grad an  Komplexität und Entwicklung. Wie wir gleich untersuchen werden, tendieren die Stufen, die auf der rechten Seite der Spirale dargestellt werden, dazu, individualistisch zu sein und den Ausdruck des Selbst hervorzuheben; während die Stufen auf der linken Seite dazu tendieren,  den Aspekt der Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen und die Hingabe des Selbst für die Gruppe hervorzuheben. 

 

Diese Struktur der Spirale ist keine deterministische Vorgabe, der die  kulturelle Entwicklung unweigerlich folgen muss, aber sie folgt einem  erkennbaren Muster der Entwicklung, das durch Jahrzehnte der Forschung bestätigt wurde. Menschliche Kulturen werden nicht unweigerlich von diesem Muster geformt, aber dieses Muster tritt in der Abfolge  jeder Form kultureller Entwicklung auf, die wir bisher beobachten  konnten. Es gibt andere Möglichkeiten, das Entwicklungsspektrum des  Bewusstseins zu unterteilen, aber die Daten bestätigen, dass diese spezifischen Ebenen nicht nur beliebige Einteilungen sind. 

 

Eine gute Möglichkeit, diese Stufen zu verstehen, bietet eine Analogie  mit dem Spektrum des sichtbaren Lichts: Denken Sie an die Wellenlänge  der Farben, die wir in einem Regenbogen sehen, wenn wir auch keine  exakten Linien zwischen ihnen ziehen können und obwohl wir Millionen subtiler Schatten identifizieren können, sehen wir, wenn wir einen  Regenbogen betrachten, bestimmte Abstufungen und spezifische Farbtöne. Jede Farbe ist in sich selbst ein Ganzes, aber wird von ihren Nachbarn ober- und unterhalb des Spektrums geformt. Und im  Entwicklungsspektrum von Bewusstsein und Kultur können wir etwas  ganz Ähnliches sehen.  

 

Nachdem wir jede Stufe detailliert untersucht haben, werden wir zur  Diskussion der Dynamiken der Struktur der Spirale als Ganzes und der  verschiedenen Forschungsergebnisse, die sie unterstützen, zurück (Seite 45) kehren.
Diese breitere Analyse der ganzen Entwicklungsspirale behalten wir uns aber besser vor, bis wir jede Stufe für sich angeschaut haben. 

 

Wie in Bild 3-1 dargestellt, kann die Spirale bis zu den frühesten  Formen menschlichen Bewusstseins zurückverfolgt werden, die als  „archaisches Bewusstsein” bezeichnet wird und heute nur in Kleinkindern oder Menschen gefunden werden kann, die durch Krankheit oder Unfall regrediert sind. Unsere Diskussion der Spirale beginnt also mit dem Stammesbewusstsein, denn hier beginnt wahrscheinlich die menschliche Kultur und damit auch von der Kultur unterstütztes und geformtes menschliches Bewusstsein.

 

Stammesbewusstsein 

 

Jeder von uns ist Teil eines Stammes oder Klans und die kulturellen Merkmale von Stammesmenschen aus verschiedenen Teilen der Welt  sind bemerkenswert ähnlich. Zudem wurde „Stammesbewusstsein” von  jedem Forscher, der die Bewusstseinsentwicklung erforscht hat, als spezifische Entwicklungsebene identifiziert. Es gibt also ein größeres Einverständnis über die Konturen dieser Welle des Bewusstseins und der  Kultur als für jede andere. Die Tabelle 3-1 gibt einen allgemeinen Überblick über die Stufe des Stammesbewusstseins.  Jede der historisch bedeutsamen Stufen von Bewusstsein und Kultur  beinhaltet eine bestimmte Weltsicht. Und was eine bestimmte Weltsicht  ausmacht, ist das, was in der Welt tatsächlich „gesehen wird". Das heißt, Weltsichten sind der Rahmen und der Fokus, welche die Wahrnehmung  dessen, was am Wichtigsten ist, hervorheben und vermitteln. Und für  jede Weltsicht ist das Wichtigste das, was einen Wert hat. Und das  beinhaltet nicht nur die Werte in Bezug auf das, was wir uns wünschen,  sondern auch im Kontrast zu dem, was wir vermeiden wollen. Mit  anderen Worten, Angriffe, Gefahren und die Umstände in unserer  Umwelt, die uns unangenehm erscheinen, sind immer mit dem  impliziten Wert ihres Gegenteils verbunden. Wenn wir zum Beispiel  physische Gefahren vermeiden wollen, ist der Grund dafür, dass wir das  Überleben unseres Körpers ermöglichen wollen; oder wenn wir den  Verlust unseres Wohnraumes vermeiden wollen, ist der Grund dafür,  dass wir den Komfort und die Sicherheit bewahren wollen, die unser  Wohnraum bietet. In der Tat war eine von Graves' wichtigsten  Erkenntnissen, wie unbefriedigende äußere Lebensbedingungen im  Zusammenspiel mit inneren Werten und Wünschen dazu führen, die  Voraussetzungen für weitere Evolution an jedem Punkt der Entwicklung zu schaffen. Jede Bewusstseinsstufe wird somit gekennzeichnet von der natürlichen Spannung zwischen dem, was diese Stufe als negativ definiert (die bedrohenden Lebensbedingungen, die Bedürfnisse stimulieren und Gegenmittel finden lassen) und dem, was  als positiv definiert wird (die Ziele der Kultur, das gute Leben). Und  wenn sich das Bewusstsein durch diese natürlichen Stufen der  Entwicklung hindurch entwickelt, verschiebt sich der Schwerpunkt  allmählich von dem Versuch, Ängste und negative Lebensbedingungen  zu vermeiden oder zu überwinden, hin zu einem zunehmenden Fokus darauf, das zu erreichen, was als positiv angesehen wird. 

 

Tabelle 3-1: Merkmale des Stammesbewusstseins

 

Aber auf der Stufe des Stammesbewusstseins und der Stammeskulturen ist Angst ein bedeutender Fokus der Aufmerksamkeit. Für diese Stufe, die auch als „primitives Bewusstsein” bezeichnet wird, ist die Welt geheimnisvoll, bedrohlich und wird von Geistern kontrolliert.  Aberglauben und magisches Denken bestimmen den Geist. Für Kinder in den entwickelten Ländern ist das die magische Phase, die normalerweise nach dem ersten Lebensjahr beginnt und bis zum siebten oder achten Lebensjahr dauert. Auf dieser Stufe sind der subjektive und objektive Bereich der Wirklichkeit nicht völlig unterschieden. lm Stammes-bewusstsein werden Objekte oft mit Subjekten verwechselt (denn Steine und Bäume enthalten ein animistisches Bewusstsein) und Subjekte werden oft mit Objekten verwechselt (denn Gedanken haben magische Kräfte). 

 

In Stammeskulturen bleibt die soziale Organisation durch Beziehungen innerhalb der Sippe „nah am Körper“. Mit anderen Worten, Stämme bestehen zumeist aus biologischen Verwandten, und diese  Form der Organisation wird nicht völlig überwunden bis zum  Erscheinen ethnozentrischer Werte auf der traditionellen Bewusstseinsstufe. 

 

Die Tatsache, dass Stämme und Klans die Organisationsstruktur primitiver Menschen überall auf der Welt sind, ist ein Beweis für die universelle Natur dieser Bewusstseinsstufe. Das Stammesbewusstsein ist eine Stufe, durch die wir alle hindurchgehen müssen - eine wichtige  grundlegende Ebene, die nicht nur transzendiert, sondern zur gesunden  Funktion höherer Bewusstseinsstufen auch mit einbezogen werden  muss. Aber die Stufe des Stammesbewusstseins und der Stammeskultur kann sehr stabil sein; tatsächlich kann sie mit nur wenig Entwicklung  Tausende von Jahren andauern. Aber wie bei jeder Stufe entsteht durch die angesammelte überschüssige Energie eine Sehnsucht nach Veränderung, wenn die schwierigen Lebensbedingungen, die zur Entstehung  dieser Stufe geführt haben, sich gebessert haben. Wenn die kulturelle  Evolution voranschreitet und eine Stufe von Bewusstsein und Kultur erfolgreicher dabei wird, die Lebensbedingungen, die ihre Werte bestimmen, zu entwickeln und zu verbessern, dann können höhere  Bedürfnisse und neue Werte erwachen. Wenn es der Stammeskultur  gelingt, die Angst zu verringern und Sicherheit zu gewährleisten, ebnet  das den Weg für das Erwachen des Wertes individuellen Ausdrucks und Selbstbestätigung - die Stammesorganisation, die einmal so wichtig war,  um Sicherheit zu geben, wird immer unterdrückender und begrenzender. Wenn also ein Problemkomplex gelöst ist, verursachen die schwierigen Lebensbedingungen, die von diesen Lösungen geschaffen  werden, das Entstehen eines neuen Komplexes von Werten - die  Lösungen der einen Stufe werden also zu den Problemen der nächsten  Stufe. Und die nächste Stufe, die auf das Stammesbewusstsein folgt,  kann am ehesten als „Kriegerbewusstsein" bezeichnet werden. 

 

Kriegerbewusstsein 

 

Die Stufe des Kriegerbewusstseins und der Kriegerkultur entsteht  aus dem unvermeidlichen Übergang von der langen und stabilen Stufe  der Stammeskultur zu einer komplexeren Form der sozialen Organisation des Menschen. In der menschlichen Geschichte kam es durch den  zunehmenden Erfolg der Stämme und die Entwicklung größeren Wohlstands und neuer Technologien zu Konflikten zwischen benachbarten Stämmen. Und als die Lebensbedingungen immer mehr vom Krieg  bestimmt wurden, entstand eine neue Weitsicht. Diese Weltsicht kann aggressiv und egozentrisch sein, aber sie kann auch großartig und gut  sein. Die Charakteristiken der Stufe des Kriegerbewusstseins und der  Kriegerkultur sind in Tabelle 3-2 zusammengefasst.

 

Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir aus dem Verstehen der  Entwicklungsspirale gewinnen können, ist, dass jede Stufe der Kultur  einen gesunden und einen pathologischen Aspekt hat - eine „Würde“  und eine „Katastrophe”. Auch wenn eine bestimmte Stufe in der allgemeinen Entwicklung einer Gesellschaft transzendiert wurde, bleibt ein  Aspekt dieser Stufe, der einen bleibenden Beitrag für die Spirale als  Ganzes leistet. Deshalb hat jede Stufe einen ihr innewohnenden oder  intrinsischen Wert, der erkannt werden muss. Um diesen intrinsischen  Wert einer jeden Stufe zu verstehen, denken Sie an die Kinder unserer  Gesellschaft. In unserer Einschätzung von Kindern bewerten wir Zweitklässler nicht geringer als Sechstklässler. Wir erkennen, dass Sechstklässler gebildeter und unabhängiger sind, aber sicherlich nicht  wertvoller in einem absoluten Sinne. Und in Bezug auf die Bewusstseinsstufen erkennen wir auch, dass jeder Mensch einen inneren Wert als Individuum hat , der respektiert werden muss, egal, auf welcher Ebene der Entwicklung sich jemand befindet.

 

Obwohl die Stufe des Kriegerbewusstseins vom modernen Standpunkt aus als sozial unerwünscht erscheinen kann, so waren doch einige ihrer kulturellen Ausdrucksformen sehr schön. Wenn wir die historischen Beispiele der Hawaiianer oder der Dakota-Indianer betrachten,  sehen wir, dass diese Menschen, obwohl sie keine Schrift entwickelt  hatten und obwohl sie brutale Krieger und chauvinistisch gegenüber  Frauen waren, auch viele „grundlegend heldenhafte Tugenden” und  eine besondere „ursprüngliche Vitalität” zum Ausdruck brachten, die  wir auch heute noch würdigen können, auch wenn unsere Vorstellungen von diesen Kulturen oft romantisiert sind. Ein großer Teil der  Würde des Kriegerbewusstseins kann man in seiner motivierten Kraft,  seinem energetischen Fokus und seiner Entschlossenheit finden. Weil  diese Welle des Bewusstseins in engen Grenzen und direkt handelt, sind  ihre Ziele nah und sichtbar und man kann seine Energien mit großer  Begeisterung konzentriert einsetzen. Kriegerbewusstsein durchbricht  also die Trägheit des biologisch bestimmten Stammesbewusstseins und  eröffnet einen entwicklungsmäßigen Fortschritt von Bewusstsein und  Kultur. Aber die Gewalt und das Chaos, die wir oft auf dieser Stufe der  Entwicklung sehen können, hat eine Art Geburtstrauma zur Folge, eine Feuerprobe, durch die jede sich entwickelnde Zivilisation hindurchgehen muss. 

 

In der Beschreibung der historisch bedeutsamen Stufen des Bewusstseins, welche die Spirale der Entwicklung formen, habe ich versucht,  Begriffe zu verwenden, die sowohl aussagekräftig als auch frei von Wertung sind, und ich hoffe, dass diese neutralen Bezeichnungen eine allgemeine Akzeptanz finden werden, wenn wir über diese Stufen sprechen.  Und mit Ausnahme der Stufe des Kriegerbewusstseins wurden die  Namen, die ich gebrauche, auch schon von anderen verwendet. Und  obwohl also der Begriff „Krieger“ in diesem Kontext neu ist, denke ich, dass dieses Wort diese Stufe gut beschreibt, denn es berücksichtigt die  Wildheit dieser Art von Bewusstsein und möchte gleichzeitig ihre grundlegende Würde zum Ausdruck bringen. Ich möchte hier betonen,  dass die Namen, die ich hier für alle Bewusstseinsstufen verwende, als  Bezeichnungen dieser verschiedenen Stufen gemeint sind. Kriegerbewusstsein bezeichnet also eine spezifische Stufe von Bewusstsein und Kultur und hat nicht den Anspruch, das Bewusstsein aller „Krieger“ zu  beschreiben. Tatsächlich ist das Militär in der westlichen Welt heute in  traditionellem und modernem Bewusstsein verankert - die Disziplin  und das technologische Wissen der heutigen Soldaten erfordert Menschen mit Werten, die über diejenigen der Stufe des Kriegerbewusstseins  hinausgehen.  In Ländern wie Somalia und Afghanistan und in den Slums großer  Städte sind Warlords und Straßenbanden ein eindeutiges Zeichen, dass  diese Stufe des Bewusstseins auch in der heutigen Welt noch sehr aktiv  ist. Und neben den Gesellschaften, die sich erst noch über die Stufe des  Kriegerbewusstseins hinausentwickeln müssen, können wir auch beobachten, dass eine negative Veränderung der Lebensbedingungen  manchmal eine Regression von höheren Stufen des Bewusstseins zum  Kriegerbewusstsein hervorruft, das in solchen Fällen als eine Notwendigkeit für das eigene Überleben angesehen wird. Auch unter Jugendlichen, die ein höheres Bewusstseinsniveau als das Kriegerbewusstsein  erreicht haben, zeigt sich die Anziehungskraft dieses Wertesystems - die  Art und Weise, wie es das Gefühl eines getrennten Selbst unterstützt - in  der Popularität von Musikstilen wie Rap und Punk. 

 

 

Um die nächste Bewusstseinsstufe im Verlauf der menschlichen  Geschichte zu verstehen, ist es wichtig, das Kriegerbewusstsein zu verstehen und vor allem die problematischen Lebensbedingungen, welche  die „Antworten“ der nächsten Stufe hervorbringen. Das Erscheinen des  „traditionellen Bewusstseins” in der Evolution - eine Bewusstseinsstufe,  auf der sich heute der Großteil der Menschheit befindet - bedeutet einen  wichtigen Durchbruch für die menschliche Zivilisation, denn mit dem  „traditionellen Bewusstsein” bewegen wir uns von der egozentrischen  Moral des Kriegerbewusstseins zur ethnozentrischen Moral, die nach  einem tiefen Gefühl der Verbundenheit zwischen den Mitgliedern der  jeweiligen Gruppe strebt. Natürlich sind ethnozentrische Werte heute,  da wir eine weltzentrische Ethik entwickeln, etwas, was wir verurteilen.  Aber im Verlauf der menschlichen Geschichte sind ethnozentrische Werte ein wichtiger Fortschritt. 

 

Traditionelles Bewusstsein 

 

Traditionelles Bewusstsein, auch bekannt als „konformistisches  Bewusstsein" entsteht als eine Antwort auf die brutalen und chaotischen  Lebensbedingungen, die durch die vorhergehende Stufe des Kriegerbewusstseins entstanden sind. Deshalb tendiert das traditionelle Bewusstsein dazu, die Welt als „böse“ zu sehen, weshalb Erlösung von der Welt  und Recht und Ordnung so wichtig werden. Wenn wir auch heute  dieses Bewusstsein in vielen Formen des religiösen Fundamentalismus  überall in der Welt wiederfinden, sind nicht alle Menschen, die hauptsächlich in diesem Bewusstsein leben, Fundamentalisten. Militärische  Organisationen, Regierungsbürokratien und konservative politische  Gruppen bieten Kontexte, in denen traditionelles Bewusstsein zum Ausdruck kommt. Die Tabelle 3-3 bietet eine umfangreiche Beschreibung der Werte  und subjektiven Lebensbedingungen der traditionellen Bewusstseinsstufe.

 

Wie beim Stammesbewusstsein, das wir vor dem Kriegerbewusstsein angeschaut haben, steht beim traditionellen Bewusstsein die Gemeinschaft im Mittelpunkt und nicht der oder die Einzelne. Dieses Wertesystem betont Aufopferung des Selbst für das größere Wohl der Gruppe.  Obwohl in der heutigen Welt viele Gruppen mit traditionellem Bewusstsein aus Menschen verschiedener Rassen bestehen, gibt es immer noch  ein solides Gefühl dafür, dass die jeweilige Gruppe (Nation, Religion,  Ideologie) allen anderen überlegen ist. Diese ethnozentrische Haltung  und das Gefühl der Überlegenheit der Gruppe sind stark mit einem  wichtigen Bestandteil jeder traditionellen Weltsicht verbunden: einem  transzendenten Sinn oder einer höheren Berufung. Diese Identifikation  mit einem transzendenten Sinn ist grundlegend für die Bildung des traditionellen Bewusstseins, denn solch ein Sinn hilft dabei, das eigene  Bewusstsein aus den Beschränkungen der egozentrischen Ethik der vorangegangenen Stufe des Kriegerbewusstseins zu befreien. 

 

 

 

Die Entwicklungspsychologin Jane Loevinger, die ausführliche  Untersuchungen über Ego-Entwicklung bei erwachsenen Frauen durchführte, gibt eine Beschreibung der Psychologie des traditionellen  Bewusstseins: 

 

„Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Identifikation  mit ihr sind die Voraussetzungen, um eine konformistische  Ausrichtung zu entwickeln  [Frauen auf dieser Stufe]  streben nach Anerkennung und Akzeptanz und suchen  besonders mit den Vorgaben der Autorität ihrer jeweiligen  Gruppe konform zu sein. Maßgaben für Erscheinungsbild,  Verhalten und Neigungen bestimmen ihr Denken. Selbstwertgefühl bekommt die Frau durch Akzeptanz und Anerkennung durch ihre Gruppe, anstelle aus hedonistischen  Gefühlen.  Die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, ist eine wichtige Möglichkeit, um akzeptiert zu werden. Die Bedürfnisse werden  stereotyp formuliert und vermischen Unterschiede im Individuum und der Gruppe. Dualistische Wertungen im Sinne  von „richtig-falsch” und „gut-schlecht” rufen eine vereinfachende Kategorisierung der Menschen hervor. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft beziehen sich auf die  Gruppen, aus denen sich ihr Selbst-Konzept bildet.  Außenstehenden wird mit Vorurteilen und Angst begegnet.“ 

 

Das traditionelle Bewusstsein ist aber mehr als eine psychologische  Stufe der Entwicklung. Wie alle Stufen der Spirale ist auch diese Entwicklungsebene eine Struktur in der Geschichte.

 

Wenn die Stufen von Bewusstsein und Kultur aus dem Zusammenspiel von sich verändernden äußeren Lebensbedingungen und sich entwickelnden inneren Werten entstehen, bringt jede neue Stufe  unvermeidlich neue Technologien hervor. Und diese neuen Technologien haben die Aufgabe, die Entwicklung der Stufe zu gewährleisten, die sie hervorgebracht hat. Für das traditionelle Bewusstsein ist eine  Schlüsseltechnologie das geschriebene Wort. Die Entstehung des kraftvollen Phänomens der Schrift ist sowohl Ursache für die Entstehung des  traditionellen Bewusstseins als auch eine Auswirkung dieses Bewusstseins. Denn da das traditionelle Bewusstsein aus der Verbundenheit mit  seinem transzendenten Sinn erwächst, gab es ein starkes Bedürfnis  danach, diesen Sinn in einem Gesetz oder einer Schrift aufzuzeichnen  und zu fixieren. Zudem geben die traditionellen Werte von Ordnung  und zentraler Autorität dem jeweils Regierenden die Macht, die Symbole zu bestimmen, die benutzt werden, um das gesprochene Wort zu  repräsentieren. Und das bringt die Entstehung der Schrift hervor.  Dadurch ermöglicht die Schrift eine neue Ebene der Zivilisation in der  Art und Weise, die es erlaubt, Erkenntnisse und Traditionen über Zeit  und Raum hinweg zu kommunizieren. Durch diese Methode erweitert  das traditionelle Bewusstsein den zivilisierenden Einfluss seiner Werte  in größere Gebiete und über Generationen hinaus. Deshalb markiert in  gewissem Sinne die Entstehung des traditionellen Bewusstseins den  „Beginn der Geschichte", denn die neuen Werte des traditionellen  Bewusstseins ermöglichen die bessere Aufzeichnung der Geschichte  durch die Technologie der Schrift. 

 

Wie wir im 9. Kapitel über die „Strukturen des menschlichen  Geistes” noch ausführlicher diskutieren werden, ist der Prozess der Evaluation eine wichtige Methode der Wahrnehmung.  Das heißt, jeder Mensch benutzt die Werte seiner oder ihrer Weltsicht, um die Welt zu verstehen. Und mit den neu entstehenden Werten  des traditionellen Bewusstseins geht die neue Fähigkeit einher, klar zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können. Die Lebensbedingungen, die ursprünglich zur Entstehung des traditionellen  Bewusstseins geführt haben, sind fast immer brutal und chaotisch. Deshalb erkennt das traditionelle Bewusstsein das Wahre und Gute in einer  Schwarz-Weiß-Sicht der Wirklichkeit, die einer Karikatur gleicht. Und  der Grund dafür ist, dass in dem Chaos und der Brutalität der Lebensbedingungen, die diese Stufe entstehen lassen, Graunuancen und moralische Unklarheit nicht sehr hilfreich sind. Aber was sehr hilfreich ist, um  mit diesen schwierigen Lebensbedingungen umzugehen, ist eine klare Unterscheidung zwischen richtig und falsch oder wahr und unwahr.  Und so sieht das traditionelle Bewusstsein die Welt. 

 

Um die Würde und evolutionäre Notwendigkeit dieser Bewusstseinsstufe zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, dass das traditionelle  Bewusstsein als unvermeidliche Grundlage für alle weiteren Bewusstseinsstufen dient. Ein sehr anschauliches Beispiel dieser grundlegenden  Rolle des traditionellen Bewusstseins in den weiteren Stufen kultureller  Evolution sind die Ereignisse nach dem Fall des Kommunismus 1990 in Russland. Obwohl der Marxismus auf einer höheren Bewusstseinsstufe  als der traditionellen entstanden sein mag, wurde die Sowjetunion in der  zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer traditionalistischen Version einer konformistischen Weltsicht bestimmt. Und als dann der Kommunismus zusammenbrach, hörte auch der transzendente Sinn und die Gruppenidentität auf zu existieren, von der diese traditionelle Ebene  zum größten Teil abhing. Der Westen nahm daraufhin an, dass mit dem  Fall des Kommunismus die Voraussetzungen für großes wirtschaftliches  Wachstum geschaffen seien. So wurden in hohen Summen in die russische Wirtschaft investiert. Aber westliche Investoren beachteten nicht,  dass das moderne Bewusstsein, das für eine Wirtschaft im westlichen  Stil notwendig ist, in großen Teilen der russischen Bevölkerung im Jahre  1990 noch nicht entwickelt war. Die Ordnung von Russlands traditionellem Bewusstsein war durch den Fall des Kommunismus zerstört, und  was übrig blieb, waren oft die darunterliegenden Strukturen des Kriegerbewusstseins. Anstatt also nachhaltiges ökonomisches Wachstum  hervorzubringen, trugen die ausländischen Investitionen in den frühen  90er Jahren nur dazu bei, einen unglaublichen Anstieg der organisierten  Kriminalität zu unterstützen. Der Grund dafür ist, dass sich die individualistische Orientierung der modernen Ebene von der ebenfalls individualistischen Orientierung der Stufe des Kriegerbewusstseins dadurch  unterscheidet, dass es die regulierenden und ordnenden Werte des traditionellen Bewusstseins mit einschließt, wie es in Bild 3-2 dargestellt ist.  Diese regulierende Stufe dient dazu, den Einzelnen zu sozialisieren und  zu begrenzen, indem sie einen klaren Sinn für richtig und falsch gibt und  die Bedeutung von Recht und Gesetz hervorhebt.  Ohne eine stabile Grundlage im traditionellen Bewusstsein kollabieren Versuche, sich zu einer höheren Stufe zu entwickeln oft im Chaos  der Kriegerkultur, als Folge von Korruption und rivalisierenden  Gruppen. Damit höhere Ebenen der Zivilisation bestehen können,  müssen die bleibenden Verdienste der früheren Stufen stabil sein und  funktionieren. Mit anderen Worten, wir müssen die bleibenden Verdienste der früheren Stufen kultivieren und festigen, damit der Übergang zu höheren Stufen nachhaltig ermöglicht wird.

 

Wenn wir über die traditionelle Bewusstseinsstufe nachdenken, ist es  wichtig anzuerkennen, dass jemand ein relativ hohes Maß an „Selbstverwirklichung" erreichen kann, während der psychische Schwerpunkt auf  dieser Stufe bleibt. Die Idee der Selbstverwirklichung stammt aus der  Arbeit von Abraham Maslow, der wahrscheinlich der weltweit  bekannteste Entwicklungspsychologe ist. Maslows Forschungen  brachten ihn dazu, eine „Hierarchie der Bedürfnisse” zu formulieren,  die mit der Erfüllung grundlegender biologischer Bedürfnisse beginnt.  Wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, erwachen höhere Bedürfnisse, bis  das Selbst in der Lage ist, sich auf das letztendliche Bedürfnis der Selbst-verwirklichung zu konzentrieren. Obwohl es möglich ist, Maslows Hierarchie ungefähr mit den Entwicklungsstufen von Graves zu vergleichen,  scheint es mir auch möglich, Maslows Hierarchie als ein organisierendes  Prinzip innerhalb jeder Stufe zu verstehen. Das heißt, alle von Maslow  identifizierten Bedürfnisse können auf der traditionellen Stufe erfüllt  werden (oder auch innerhalb jeder der höheren Stufen). Ich möchte hier den Priester Billy Graham als Beispiel nehmen. Billy Graham hat eine  lange und herausragende Karriere hinter sich, denn er war der spirituelle Berater verschiedener US-Präsidenten, er hat weltweit Millionen von  Menschen inspiriert und eine große Gemeinde aufgebaut, die heute von  seinen erwachsenen Kindern geführt wird. Es würde kaum jemand  behaupten, Graham habe nicht zumindest einige seiner Bedürfnisse  nach Selbstverwirklichung erfüllt. Und obwohl er sicher fähig ist, Bewusstseinsebenen oberhalb der traditionellen zu verstehen, scheint das Zentrum seines Bewusstseins fest in dieser Ebene eingebettet zu  sein. Daran können wir auch sehen, dass spirituelle Entwicklung und  Selbstverwirklichung auf allen Bewusstseinsebenen möglich sind, egal,  auf welcher Position in der Spirale man sich befindet.

 

Aber wie alle evolutionären Bewusstseinsstufen hat auch die traditionelle Ebene ihre Nachteile. Pathologien treten typischerweise in Erscheinung, wenn die existenziellen Probleme, die diese bestimmte Stufe  entstehen ließen, gelöst wurden. Weil die jeweiligen Lebensbedingungen für die Existenz einer bestimmten Ebene notwendig sind, ist es typisch für diese Stufe, dass, wenn diese Lebensbedingungen verschwinden, sie auf Situationen projiziert werden, in denen sie nicht  wirklich vorhanden sind. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass die  Lebensbedingungen, die zur Entstehung der traditionellen Bewusstseinsstufe geführt haben, eine als böse erfahrene Welt beinhalten, die  erlöst werden muss. Wenn aber die schlimmsten Exzesse des Kriegerbewusstseins unter Kontrolle sind, beginnt sich die traditionelle Ebene auf  neues „Böses“ zu konzentrieren. Die Aufmerksamkeit wechselt von der  vergangenen Boshaftigkeit egozentrischer Gewalt und beginnt sich auf  fälschlicherweise als böse wahrgenommene Eigenschaften zu fokussieren, wie Homosexualität oder andere relativ positive Aspekte der  Gesellschaft, die Fundamentalisten verdammen. Und so geht der Prozess weiter: Wenn das Bewusstsein erfolgreich die Probleme einer Evolutionsebene löst, resultiert aus genau diesen Lösungen ein neuer  Problemkomplex, der nur durch das Erscheinen der nächsten Entwicklungsstufe gelöst werden kann. 

 

Modernes Bewusstsein 

 

Traditionelles Bewusstsein gibt es in verschiedenen Formen mindestens seit 5000 Jahren. Aber nur die erfolgreichen Versionen davon haben  zum Übergang zur nächsten Stufe geführt, die als „Moderne“ bekannt  ist. Die erste bedeutsame Emergenz moderner Kultur gab es im 5.Jahrhundert v. Chr. im Goldenen Zeitalter des antiken Griechenlands. Der Triumph der Vernunft über den Mythos wurde in der griechischen Philosophie, Mathematik, Ingenieurskunst, Politik und Kunst sichtbar. Tatsächlich ist das Erscheinen von Realismus und Perspektive in der Kunst  immer ein gutes Kennzeichen für das Entstehen modernen Bewusst-  seins. Obwohl das Goldene Zeitalter des antiken Griechenlands als eine  Art „platonische Grundlage der Zivilisation“ diente - ein romantisches  Ideal, das während der letzten 500 Jahre in den Vorstellungen späterer  Modernisten weiterlebte - war diese Ebene von Zivilisation unreif und konnte nicht aufrecht erhalten werden. Und obwohl Spuren der modernen Kultur im Römischen Reich bis zu seinem letztendlichen Niedergang erkennbar sind (und zu einem gewissen Grad auch in den  antiken islamischen, indischen und chinesischen Zivilisationen), entstand modernes Bewusstsein in einer nachhaltigen Form erst mit der europäischen Renaissance und in seiner vollen Blüte dann in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Die grundlegenden Merkmale der  modernen Bewusstseinsstufe zeigt die Tabelle 3-4. 

 

Die Werte dieser individualistisch orientierten Bewusstseinsstufe  beinhalten Fortschritt und Verbesserung, materiellen Wohlstand und  Status und natürlich individuelle Autonomie und Unabhängigkeit. Da modernes Bewusstsein aus der konformistischen Mentalität der traditionellen Bewusstseinsstufe ausbricht, gewinnt sie Macht durch Initiative,  Selbstvertrauen und ein Gefühl der Befreiung, das durch die Ablehnung  der Autoritäten der traditionellen Kultur und ihres historischen Missbrauchs entsteht. 

 

In unserer Betrachtung des traditionellen Bewusstseins sahen wir,  wie die neu entstehenden Werte der traditionellen Weltsicht neue  Fähigkeiten der Wahrnehmung ermöglichten und eine stärkere Fähigkeit zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Gleichermaßen  ermöglichen die neu entstehenden Werte des modernen Bewusstseins,  eine größere Fähigkeit über die in der traditionellen Weltsicht gegebenen Erklärungen einer „mythischen Ordnung” hinauszudenken. Das heißt, der klare Realismus, der in den rationalen Werten der modernen  Weltsicht enthalten ist, ermöglicht es seinen Anhängern, die Natur der Dinge zu hinterfragen und das materielle Universum mit der wissenschaftlichen Methode zu messen und experimentell zu untersuchen. 

 

Und im Bereich der Politik ermöglichen die modernen Werte eine  neue Vision vom „natürlichen Gesetz” und den „Menschenrechten”.  Das neue Gefühl der Moderne für die Würde und Autorität des Einzelnen gibt ihr den Mut, die korrupten Strukturen des Feudalismus und  der von der Kirche unterstützten sozialen Hierarchie herauszufordern.  Und durch diese neue politische Selbstgewissheit kann in der Moderne  die Demokratie entstehen.

 

Thomas Jefferson verstand die Kraft der  Werte des modernen Bewusstseins durch die Idee der „öffentlichen Verdienste". Jefferson erkannte, dass es für die Stabilität der Demokratie  notwendig war, dass ein großer Teil der Bevölkerung ein starkes Pflichtgefühl als Bürger, eine Intoleranz für Korruption und die Bereitschaft zu  persönlicher Verantwortung für die Verbesserung ihrer Regierung entwickelt. Die Entstehung der modernen Bewusstseinsebene kann in Verbindung gebracht werden mit dem verstärkten Gebrauch des Neocortex  und speziell der linken Hirnhälfte. Dies erklärt, wie Logik und Vernunft  auf dieser Entwicklungsebene in größerem Maße verfügbar wurden. Die  integrale Theoretikerin Jenny Wade nennt diese Welle des Bewusstseins  „leistungsorientiertes Bewusstsein” und indem sie die Erkenntnisse einer großen Anzahl von Forschern zusammenfasst, kommt sie zu dem  Schluss: 

 

„Die leistungsorientierte Ausrichtung erlaubt es einem Menschen, über Pläne von einem Standpunkt nachzudenken,  der teilweise vom System entfernt ist. Das heißt, die  „Regeln des Spieles” zu verstehen, um „Abkürzungen zu  nehmen“, „verschiedene Szenarien durchzudenken”, seine  „Chancen” zu erhöhen und einen Vorteil gegenüber denjenigen zu erreichen, denen nicht so viel möglich ist (oder die sich weniger bemühen)  Eine Sensibilität für Status lässt  den leistungsorientierten Menschen auf die relative soziale  Position in Bezug auf die unterschiedliche soziale Macht  (Geld, Position, Prestige) eines jeden Menschen fokussiert  sein. Menschen auf dieser Bewusstseinsebene arbeiten aus  einem Gefühl von persönlicher Leistung und Konkurrenz,  um anderen voraus zu sein. Wenn das Bedürfnis nach  Macht und Dominanz auch einige Aspekte der Egozentrik  [Kriegerbewusstsein] wiederholt, schafft die sozial konstruierte Weltsicht dieser Bewusstseinsebene eine viel komplexere Dynamik. Der leistungsorientierte Mensch beurteilt  nicht nur sich selbst und seine Handlungen im Vergleich  mit anderen, er ist auch sehr auf sein öffentliches Ansehen  bedacht. Er ist nicht länger eingebettet in die sozialen  Rollen und Regeln des konformistischen [traditionellen]  Bewusstseins, bleibt aber trotzdem in einer dialektischen  Beziehung mit dem sozialen System und muss in akzeptabler Art und Weise „gewinnen“.“ 

 

Dieses Zitat von Wade hebt einen wichtigen Punkt der Entwicklungstheorie hervor, die vor allem aus der Arbeit von Robert Kegan stammt,  den wir weiter oben schon zitierten. Kegans „Subjekt-Objekt-Theorie”  beschreibt die Bewusstseinsentwicklung durch die Stufen, indem sie zeigt, dass ein Mensch eine bestimmte Stufe transzendiert, wenn das,  was vorher im subjektiven Bewusstsein dieses Menschen eingebettet  war, objektiviert wird oder aus einer äußeren Perspektive betrachtet  wird. In Kegans Worten: „Unsere Erkenntnisweisen zu transzendieren,  uns von dem zu befreien in das wir eingebettet waren, das zum Objekt  zu machen, was vorher Subjekt war, damit wir ,es haben' können,  anstatt dass ,es uns hat' - das ist die kraftvollste Art und Weise, die Entwicklung des Geistes zu verstehen."   

 

Auf der traditionellen Bewusstseinsstufe zum Beispiel ist das religiöse Glaubenssystem eines Menschen Teil des Subjekts - das subjektive  Bewusstsein des Menschen ist in das Glaubenssystem eingebettet, und  die objektive Welt wird deshalb so wahrgenommen und konstruiert,  damit die Forderungen dieses Glaubenssystems erfüllt werden. Wenn  aber jemand die traditionelle Stufe transzendiert und die größeren  „Erkenntnisfähigkeiten” der modernen Bewusstseinsebene erlangt, mag  er immer noch von den gleichen religiösen Glaubenssätzen überzeugt  sein, aber diese Glaubenssätze sind nun objektiviert, er kann über sie  hinaussehen, er hat eine größere Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen und die Welt durch die Glaubenssysteme anderer Menschen zu sehen, so wie auch durch seinen eigenen  Glauben. Wenn ein Mensch sich entwickelt, kann er weiterhin „seinen  Glauben haben", aber in weiter entwickelten Bewusstseinsstufen „hat  der Glauben nicht mehr ihn". 

 

Mit der Emergenz des modernen Bewusstseins entstehen auch die liberalen Ideale der Religionsfreiheit, Geschlechtergleichheit, Meinungs-  und Pressefreiheit und der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz.  Und auch wenn die moderne Welt diese „würdevollen Ideale” erst noch  fair und universell allen Menschen zugänglich machen muss, war es  durch den Aufstieg der modernen Kultur möglich, diese Rechte und  Freiheiten als erreichbare Ideale zu erkennen.

 

Aber die vielleicht größte  Errungenschaft des modernen Bewusstseins war die Entstehung der  Wissenschaft und der wissenschaftlichen Weltsicht. Denn die Wissenschaft hat uns zum ersten Mal eine scheinbar universelle Wahrheit  erkennen lassen, eine „objektive“ Wahrheit, die Kulturen, Sprachen und  Nationen transzendiert. Die Wissenschaft hat die Technologie  geschaffen, mit der es uns möglich war, die Welt zu entdecken und zu  verbinden. Sie gab Europa das Wissen und die Macht, die Welt zu kolonialisieren und die Grundlagen der industriellen Revolution, des Weltmarktes und der internationalen Diplomatie zu legen. Und die  Wissenschaft der westlichen Medizin war zusammen mit der landwirtschaftlichen Technologie so erfolgreich darin, die Sterblichkeitsrate zu  verringern, dass dies schließlich zu einer Bevölkerungsexplosion unbekannten Ausmaßes führte.  Wenn Sie nun denken, dass diese „Errungenschaften“ der Wissenschaft sich nicht so positiv ausgewirkt haben, sind Sie mit dieser Ansicht  nicht allein. Natürlich kann man überzeugende Argumente dafür  anführen, dass die Katastrophen der Moderne ihre Errungenschaften weit übertreffen. Aber aus einer evolutionären Perspektive ist das nur  ein weiteres Beispiel dafür, dass die Lösungen einer Ebene zu den Problemen der nächsten werden. Weil die moderne Kultur komplexer war und größere Tiefe als frühere Ebenen beinhaltete, war auch ihr Potenzial für gute und schlechte Auswirkungen größer. Als Wissenschaft und Rationalität sich vom mythischen Denken und den Einschränkungen der  Kirche trennten, und als sie sich immer weiter von den mäßigenden Einflüssen anderer Wissensgebiete, wie den Künsten und den Geisteswissenschaften, abgrenzten, wurde diese zunächst gesunde Differenzierung zu einer unheilvollen Dissoziation (zu viel Transzendenz, nicht genug  Einbeziehung). Die Wissenschaft begann schließlich, andere Wissensgebiete zu „kolonialisieren” und zu dominieren, und ging dabei oft so  weit, deren Wert in Frage zu stellen. In vielen wichtigen Bereichen  wurde Wissenschaft zu Wissenschaftsglauben oder Szientismus, die pathologische Form des modernen Bewusstseins, die wir schon weiter  oben angesprochen haben und die davon ausgeht, dass die einzig „wirkliche” Wirklichkeit die objektive, materielle Realität sei.  In Wilbers Worten: 

 

„Einfacher ausgedrückt: Das Ich und das Wir wurden vom  Es kolonisiert. Das Gute und Schöne wurde von einer  wuchernden monologischen Wahrheit vereinnahmt, die,  wie bewundernswürdig sie einerseits war, in ihrer Selbstüberschätzung überheblich und in den Beziehungen zu den  Erstgenannten zu einer Krebsgeschwulst wurde. Im maßlosen Dünkel und im Rausch ihrer fulminanten Siege  wurde die empirische Wissenschaft zum Szientismus, der  Glauben, dass es keine Wirklichkeit gäbe außer der von der  Wissenschaft enthüllten und keine Wahrheit außer derjenigen, die die Wissenschaft zutage förderte. Der subjektive  und innere Bereich, das Ich und das Wir, wurden zu objektiven, äußeren, empirischen Prozessen verflacht, seien sie  atomistisch oder systemisch. Das Bewusstsein selbst, Geist,  Herz und Seele der Menschen konnte man mit einem  Mikroskop, einem Teleskop, einer Nebelkammer, einer  fotografischen Platte nicht sichtbar machen, weshalb sie im  besten Fall zu Epiphänomenen, im schlechtesten zu Illusionen erklärt wurden.“ 

 

Schließlich brachten die inneren Grenzen und die stärker werdende  ideologische Unterdrückung durch das „Newtonsche-Kartesianische  Paradigma” viele Denker dazu, in ihrem Verstehen der Welt nach neuen  Wegen zu suchen.

 

Heute hat sich die wissenschaftliche Weltsicht in gewissem Sinne durch ihre eigenen Fortschritte in der experimentellen  Physik selbst dekonstruiert. Das Hinterfragen des Positivismus als die  absolute Autorität wurde auch von der kritischen akademischen Debatte  unterstützt, die den „Mythos des Gegebenen” offenlegte - die naive  Annahme, dass die Wirklichkeit, so wie sie ist, objektiv wahrgenommen  werden kann, ohne die Verzerrung der Interpretation. Aber trotz des  Aufstiegs der Postmoderne dominieren die Vorurteile der wissenschaftlichen Weltsicht weiterhin viele Institutionen der entwickelten Welt.  Szientismus ist aber nicht das schlimmste Problem des modernen  Bewusstseins. Die prinzipielle Pathologie finden wir in der andauernden  Gefahr, dass die Schrecken, welche die industrialisierte militärische  Technologie im 20. Jahrhundert verursachte, in einem neuen Weltkrieg  wiederholt werden. Und heute bedroht uns dieselbe moderne militärische Technologie auf neue Art und Weise, indem sie von prämodernen  Kämpfern verwendet wird, die die westliche Welt mit Terrorismus zerstören wollen. Zudem ist der Aufstieg der Moderne auch zum großen  Teil für die zunehmende Umweltzerstörung verantwortlich, die sich  schließlich als destruktiver herausstellen könnte als jede vorstellbare  Waffe.  Die vielen Pathologien der Moderne und der moralische Bankrott  einiger ihrer prominentesten Leitfiguren haben viele dazu veranlasst, zu hinterfragen, ob das Wachstum der westlichen Zivilisation tatsächlich zu  wirklichem „Fortschritt“ geführt hat. Durch das 20. Jahrhundert hin-  durch und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg haben einige der  begabtesten Denker der westlichen Welt den Glauben an das Projekt der  Aufklärung verloren. Die moralischen Fehler der Moderne haben zu  einer großen Anzahl verschiedener antimoderner Bewegungen geführt,  und in den letzten 50 Jahren haben sich diese verschiedenen Formen  alternativer Kultur lose zu einer Bewegung verbunden, die wir heute  eindeutig als die Welle des postmodernen Bewusstseins identifizieren  können. Und diese werden wir als Nächstes untersuchen. 

 

Postmodernes Bewusstsein 

 

Die Moderne war sehr erfolgreich und ihr größter Erfolg wird durch  die Tatsache ersichtlich, dass sie die Grundlage für ihre eigene Transzendierung bereitete, indem sie eine alternative Form der Kultur hervorbrachte, die man am besten als „Postmoderne“ bezeichnen kann. Es  scheint mir wichtig, hier zu wiederholen, dass ich den Ausdruck postmodern für diese Weltsicht verwenden werde, obwohl der Begriff Viele  Bedeutungen hat und auch verwendet wurde, um bestimmte einzelne Aspekte der zeitgenössischen Kultur zu beschreiben, die nur untergeordnete Bedeutung in einer größeren Weltsicht haben, die nach der Moderne entstanden ist. Der Grund dafür ist, dass dieser Ausdruck  schon von anderen im gleichen Zusammenhang verwendet wurde und  weil er die antithetische Beziehung dieser Weltsicht mit vielen Aspekten  der modernen Kultur gut beschreibt. 

 

Die meisten Entwicklungspsychologen lassen ihre Beschreibung der  Bewusstseinsstufen entweder auf der modernen Ebene enden oder verwechseln die postmoderne Ebene mit der integralen Ebene, die danach  kommt. Wie wir schon gesehen haben, ist deshalb ein besonderer Vorteil  des Modells von Graves seine klare Identifizierung der gemeinschaftlich  orientierten Bewusstseinsstufe, die zwischen der Moderne und dem  später entstehenden integralen Bewusstsein liegt. 

 

Postmodernes Bewusstsein (zusammengefasst in Tabelle 3-5) wird  durch ein hohes Maß an Sensibilität charakterisiert - Sensibilität denen gegenüber, die vorher unterdrückt und ausgebeutet wurden, Sensibilität  gegenüber den Bedürfnissen und der Empfindlichkeit der Umwelt, und  Sensibilität gegenüber der Anziehungskraft des weiblichen Wissens. Die  postmoderne Stufe entsteht als Antwort auf den „Druck“ durch die  Pathologien der Moderne, und viele ihrer Werte definieren sich durch  die Reaktion auf diese Pathologien. Der Multikulturalismus zum Beispiel ist eine Reaktion gegen den Eurozentrismus; die Umweltbewegung  ist eine Reaktion gegen industrielle Zerstörung und Ausbeutung; und  die Vorliebe für Konsens, Zusammenhalt und „Vernetzung“ ist eine  Reaktion gegen die allgegenwärtigen hierarchischen Rangordnungen  der Moderne. Und sogar die Ausrichtung des postmodernen Bewusstseins auf Gefühl, Fürsorge und Sensibilität ist selbst eine Reaktion gegen  den kalten Rationalismus und leidenschaftslose Perspektive des wissenschaftlichen Materialismus. 

 

Die ersten Zeichen dieser Weltsicht, die auch als „verbundenes  Bewusstsein” und als pluralistischer Relativismus bekannt ist, können  wir bereits in der Aufklärung sehen, zum Beispiel in den Schriften von  Jean Jacques Rousseau und der Romantik und später im 19. Jahrhundert  auch in den Schriften von Walt Whitman, Henry David Thoreau und  Ralph Waldo Emerson. Aber erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts  entstanden die ersten echten postmodernen kulturellen Strukturen in  einem größeren Ausmaß. Der Anreiz oder „Sog“, der die Generation der  Babyboomer dazu veranlasste, das postmoderne Bewusstsein in großer  Breite anzunehmen, waren die Kraft der Musik der 60er und die moralischen Ziele der Menschenrechtsbewegung und des Friedens in  Vietnam. In der akademischen Welt brachte der Aufstieg der postmodernen Werte ein neues „kritisches Paradigma“ hervor, das zum Ziel  hatte, den Kanon des westlichen Wissens zu dekonstruieren, indem es die Subjektivität dessen zeigte, was vorher als „objektiv“ verstanden  wurde. 

 

Die Errungenschaft der postmodernen Bewusstseinsstufe kann darin  gesehen werden, wie sie die westliche Gesellschaft in vielen Bereichen  sensibilisiert und feminisiert hat. Die kulturelle Vorherrschaft der monolithischen Werte der beiden vorhergehenden Stufen (modern und traditionell, die zusammen die Weltsicht des Westens bilden) nahmen in  ihrem Einfluss spürbar ab, als die neue weltzentrische Ethik der postmodernen Stufe begann, den Wert der vorher unterdrückten Stufen der  Evolution zu erkennen - besonders die Stufen des Krieger- und Stammesbewusstseins, die immer noch von vielen Ureinwohnern und Menschen außerhalb des Westens gelebt wurden. Deshalb ist einer der  wichtigsten Verdienste der postmodernen Weltsicht, dass sie versuchte,  auf einer höheren Stufe dasjenige einzubeziehen, was die moderne Stufe  vorher in ihrer Transzendenz hinter sich gelassen hatte. 

 

Der Aufstieg des postmodernen Bewusstseins hatte einen bedeutsamen Einfluss auf die Politik der westlichen Demokratien. Tatsächlich  hat jede neue Bewusstseinsstufe, die im Verlauf der Geschichte entstanden ist, einen Vorteil gegenüber der vorhergehenden Stufe, weil ihre  Werte tiefer und komplexer sind. Kriegerbewusstsein besiegt das Stammesbewusstsein durch seine unbändige Brutalität und Entschlossenheit.  Traditionelles Bewusstsein ist in der Regel in der Lage, das Kriegerbewusstsein zu besiegen, durch eine überlegene Organisation und Gruppendisziplin. Modernes Bewusstsein überwindet das traditionelle  Bewusstsein durch die technologische und industrielle Überlegenheit.  Und postmodernes Bewusstsein hat gegenüber der Moderne den Vorteil, durch gewaltlose politische Aktionen und moralische Stärke Veränderungen hervorzubringen. Beispiele dafür sind der Erfolg der  politischen Strategien gewaltfreien Protestes, wie ihn Thoreau  beschrieben hat und Gandhi und Martin Luther King jr. angewendet  haben. Tatsächlich können wir heute die Möglichkeit des gewaltfreien  Widerstands als ein wichtiges moralisches Vermächtnis des postmodernen Bewusstseins sehen. Obwohl es sicher auch Ausnahmen gibt, ist  die zunehmende relative Macht jeder entstehenden Bewusstseinsstufe  ein Anhaltspunkt für die evolutionäre Transzendenz in Bezug auf die  davorliegenden Ebenen.  In den bisherigen Ausführungen können wir sehen, wie die Werte  des Traditionalismus eine neue Sicht von richtig und falsch hervorgebracht haben und wie die Werte der Moderne eine neue Sicht des materiellen Universums und der Menschenrechte möglich machten. Und nun  können wir beim postmodernen Bewusstsein sehen, wie seine Entstehung eine neue Art der Wahrnehmung ermöglicht. Das postmoderne  Bewusstsein sieht den Wert dessen, was vorher während des Aufstiegs  der Moderne ignoriert und abgelehnt wurde, mit neuen Augen. 

 

So erkennt die neue Sicht der Postmoderne den Wert alternativer und  traditioneller Medizin, sie entdeckt die tiefen Wahrheiten östlicher Spiritualität und reagiert mit Wut und Scham auf das moderne Erbe rassistischer und sexistischer Ausbeutung. Um es noch einmal zu betonen,  diese neuen Einsichten sind durch die „Wahrnehmungskräfte” neuer  Werte möglich. Genauso wie die Moderne sich durch das Annehmen der  wissenschaftlich-objektivistischen Wahrheitsnormen entwickeln konnte,  bewegt sich die Postmoderne mit ihrem Interesse an der Rolle der Subjektivität in ihrem Wahrheitsanspruch in die andere Richtung. Und die  postmoderne Erkenntnis der sozial konstruierten Natur der Wahrheit  können wir in vielen Bereichen der progressiven Kultur erkennen.  Während moderne Wahrheitsnormen dazu neigen, von wissenschaftlichen Tatsachen eingeengt zu werden, neigen postmoderne Wahrheitsnormen dazu, zunehmend  pluralistischer zu werden - Wahrheit könnte  man für das postmoderne Bewusstsein als „Was immer für dich wahr  ist“ beschreiben. 

 

Aufgrund der Verletzlichkeit, die ihrer Komplexität und Tiefe innewohnt, bringt die postmoderne Ebene, so wie auch die vorhergehenden  Stufen, gleichermaßen Fortschritt und Pathologie. Einer der Nachteile  der postmodernen Stufe ist ihr „Werterelativismus”. Beispiele eines  Werterelativismus, der in einer Haltung des „Alles ist ok." alles einbeziehen möchte, können in vielen Bereichen der heutigen Kultur  gefunden werden, zum Beispiel in der New Age-Spiritualität, der alternativen Medizin, dem Multikulturalismus und der Opfer-Politik. Und  der Werterelativismus ist besonders vorherrschend an Eliteuniversitäten. Im akademischen Bereich und im Erziehungssystem gibt es viele  Postmodernisten, die davon überzeugt sind, dass alle sozialen Hierarchien im Grunde subjektiv sind und dass die Moderne keineswegs  besser ist als das, was ihr vorausging. Damit ist nicht gesagt, alle Ausdrucksformen der postmodernen Weitsicht seien pathologisch, aber in  den vielen Bereichen unserer Kultur sind Werte, wie die Konkurrenz der  Leistungen und die Hierarchien des Erreichten, meist den vorherrschenden Werten der Gleichheit und des Einbeziehens untergeordnet.  Aber mit dem Versuch, in einem evolutionären Universum, das auf jeder  Ebene durch hierarchische Entwicklung organisiert wird, Hierarchie zu  beseitigen, bedeutet eine Verneinung der Wirklichkeit.  Genauso wie vorher die moderne Stufe in ihrer Differenzierung zu  weit gegangen ist und sich von den wichtigen Aspekten der vorhergehenden Stufen getrennt hat, so geht auch die postmoderne Stufe oft in  ihrem Versuch der Integration vorhergehender Ebenen zu weit in die andere Richtung. Wenn Differenzierung (Transzendenz) aus dem  Gleichgewicht gerät, wird es zu Dissoziation. Und wenn Integration  (Einbeziehung) aus dem Gleichgewicht gerät, führt das zu Verschmelzung. Die pathologische Verschmelzung der Postmoderne finden wir  darin, dass sie daran scheitert, die guten Aspekte der vorhergehenden  Stufen - Aspekte, die wir in die Zukunft hinein mitnehmen und einbeziehen wollen - von den unreifen und pathologischen Aspekten der vorhergehenden Stufen, die wir hinter uns lassen sollten, zu unterscheiden. 

 

Der postmoderne Werterelativismus führt zu etwas, das wir als  „Grünes Dilemma” bezeichnen können. Dies hat seinen Ursprung in der  Tatsache, dass die weltzentrische Moral der Postmoderne ein evolutionärer Fortschritt gegenüber weniger entwickelten Formen der Moral ist,  welche die vorhergehenden Stufen kennzeichnen. Die postmoderne Sensibilität und das Mitgefühl für die Benachteiligten, welche die Ethik  dieser Stufe ausmachen, macht sie feinfühlig für Leiden und Ungerechtigkeit, die vorher nicht bemerkt wurden. Aber wegen der Aversion  gegen jede Art von Bewertung ist es für das postmoderne Bewusstsein  schwierig, seine eigenen Werte auf die sogar schlimmsten Gewalttaten  der vorhergehenden Stufen anzuwenden. Dadurch behindert sich das  postmoderne Bewusstsein selbst in seinen Anstrengungen, um positive  und nachhaltige Veränderungen in einer Gesellschaft zu bewirken. Aber  wie wir bald sehen werden, ist das integrale Bewusstsein, weil es größere Unterscheidungskraft besitzt, besser dazu in der Lage, die weltzentrische Moral, die von der Postmoderne entwickelt wurde, zu nutzen, um  dauerhafte soziale Entwicklung zu gewährleisten. 

 

Ein weiterer problematischer Aspekt der postmodernen Bewusstseinsstufe liegt darin, dass sie so „teuer“ ist. Diese Weltsicht sieht schnell  die Rechte, aber kaum die damit verbundenen Verantwortlichkeiten.  Diese Stufe beruht auf dem materiellen Wohlstand, der durch die  moderne Stufe geschaffen wurde. Und obwohl sie von diesem Wohl-  stand abhängig ist, verneint sie oft dessen Wert. In ihrem Versuch, den  Wohlstand neu zu verteilen, zerstört sie oft das System, das den Wohlstand hervorgebracht hat. Aber wenn die postmoderne Stufe die Werte  sowohl der traditionellen als auch der modernen Stufe angreift, zerstört  sie unwissentlich die Grundlagen ihrer eigenen Entwicklung. Wie Don  Beck sagt, sei das postmoderne Bewusstsein „wie jemand, der mit einer  Leiter auf das Dach eines Hauses klettert und dann die Leiter umwirft,  auf der er dorthin gekommen ist."

 

Nach Beck ist es wichtig, sich drei  Dinge anzuschauen, wenn wir die Gesundheit oder Pathologie einer Entwicklungsstufe erkennen wollen: die Lebensbedingungen, die  grundlegenden Werte dieser Stufe und den besonderen Ausdruck dieser  Weltsicht in einem spezifischen Kontext. ln dem folgenden Beispiel  erklärt er, warum wir diese drei Faktoren berücksichtigen müssen: 

 

„Wenn wir Kapitalismus oder Konsumdenken nicht mögen,  welche Ausdrucksformen der [modernen Stufe] sind, so  sind sie doch nicht mit den [Errungenschaften der  modernen Stufe] identisch, Dinge zu bewerkstelligen und  Dinge zu verbessern. Die Kreativität und Fähigkeit, Dinge  zu bewerkstelligen, die [dieser modernen Stufe] innewohnen, können jetzt dafür genutzt werden, die Umweltzerstörung wieder zu bereinigen. Deshalb können wir es  uns nicht leisten, [irgendeine dieser Bewusstseinsstufen] zu  verurteilen. Wir können eine ihrer Manifestationen kritisieren, aber ohne [das moderne] Denken könnten wir keine  medizinischen Probleme lösen, könnten wir nicht herausfinden, wie wir das Wasser und die Luft wieder sauber  bekommen, und wir würden zurückfallen zu den Mythen  und dem Mystizismus des [traditionellen Bewusstseins].  Und ich denke, so etwas wünscht sich niemand.  Weil die Postmoderne die letzte Stufe ist, die bisher in der Geschichte  entstanden ist, ist sie auch die am weitesten entwickelte Bewusstseinsstufe, die noch dabei ist, sich in den Kulturen der Welt durchzusetzen.  Und weil sie die am weitesten entwickelte Stufe ist, ist sie auch moralisch am weitesten fortgeschritten und verdient es, dafür gewürdigt und  geschätzt zu werden. Aber weil die Begrenzungen, die dieser Stufe inne-  wohnen, immer deutlicher werden (wir werden diese im nächsten  Kapitel näher untersuchen), können wir erkennen, warum die postmoderne Weltsicht von einer neuen evolutionären Entwicklung des  Bewusstseins transzendiert und einbezogen werden muss.  lm nächsten Kapitel werden wir uns dem postmodernen Bewusstsein  zuwenden und seine Rolle bei der Entstehung der integralen Weltsicht  untersuchen. Aber bevor wir beginnen, die integrale Bewusstseinsstufe  genauer zu untersuchen, ist es angebracht, mehr über die Spirale des  Bewusstseins und der Kultur als Ganzes zu sagen. …

 

Die integrale Bewusstseinsstufe  

 

In den progressiven Teilen unserer Kultur gibt es eine tiefe Sehnsucht  nach einer umfassenden sozialen Veränderung. Viele sind beunruhigt  durch das Wertevakuum, das sie überall in unserer Gesellschaft sehen  können und sehnen sich nach einem Durchbruch, der uns aus dieser  Situation, die oft wie ein hoffnungsloses Dilemma erscheint, befreien  kann. Aber viele der Menschen, die nach solch einem großen Erwachen  rufen, haben davon die Vision einer Art wunderbarer Revolution, eine  durch die Krise hervorgerufene Transformation der Herzen, die uns alle  durch eine neue Erkenntnis unserer Einheit mit der ganzen Weltgemeinschaft zusammenbringt. Solche sentimentalen Hoffnungen auf eine globale Transformation sind sicher gut gemeint, aber ziemlich unrealistisch.  Obwohl die Einschätzung realistisch ist, dass wir heute eine wesentliche  Weiterentwicklung brauchen, ist es aber nicht realistisch anzunehmen,  dass eine revolutionäre Veränderung die Art von nachhaltigem Fort-  schritt hervorrufen wird, nach der unsere Zivilisation verlangt. Um  nachhaltig zu sein, muss die Transformation, nach der wir suchen, nicht  das Ergebnis von Revolution, sondern von Evolution sein. Wenn wir  aber das historische Phänomen der kulturellen Evolution genau und  sorgfältig durch die Perspektive der integralen Philosophie betrachten,  erkennen wir, was wir als Nächstes erwarten können. Die notwendige  kulturelle Evolution wird so zu uns kommen, wie es schon immer  geschehen ist: in der Form einer neuen, auf Werten basierenden Weltsicht, die aus der gegenseitigen Durchdringung von zunehmenden Problemen und neu erkennbaren Möglichkeiten entsteht.  Obwohl der Beitrag der Postmoderne zur menschlichen Evolution  noch nicht vollkommen erfüllt ist, gibt es doch viele Anzeichen, dass sie  als eine Ebene der Kultur ihre Reife erlangt hat. Wenn wir also über die  Postmoderne in Erwartung der sicherlich aufregenden Geschichte des  vor uns liegenden 21. Jahrhunderts hinausschauen, können wir die Konturen der nächsten auftauchenden Welle von Bewusstsein und Kultur  erkennen. Die integrale Weltsicht, die wir nun genauer untersuchen  werden, bedeutet eine Transzendierung der Postmoderne, weil sie zu  etwas in der Lage ist, was die Postmoderne nicht kann: die vollkommene  Anerkennung der Legitimität und der evolutionären Notwendigkeit  aller vorausgegangenen Entwicklungsstufen.

 

Somit wächst das integrale Bewusstsein, indem es sich nach unten  erweitert. Es führt sehr viel effektiver zu evolutionärer Entwicklung,  weil es die Evolution selbst besser versteht. Und wenn wir die subtilen  Gewohnheiten und Methoden der Evolution immer besser verstehen -  ihre sanfte Überzeugungskraft und die Art, wie sie von innen heraus-  wächst und immer auf das aufbaut, was schon entstanden ist ~ können  wir sehen, dass das Ausmaß unserer Transzendierung von der Breite unseres  Einbeziehens abhängt.  Wie jede vorhergehende historisch bedeutsame Weltsicht entsteht  auch das integrale Bewusstsein sozusagen als Antwort auf ein „Ziehen“  und ein „Drücken”. Wie wir gesehen haben, kommt der Druck hin zu  einer neuen Bewusstseinsstufe von der zugespitzten Situation unbefriedigender Lebensumstände und der sich verstärkenden Pathologien der  vorher existierenden Stufen. Der Zug entsteht durch die Anziehungskraft der neuen Werte der nächsten Stufe - eine neue Wahrheit, eine  neue Schönheit und neue moralische Ideale, die mit der Geburt einer  neuen geschichtlichen Ebene immer einhergehen. Zuerst werden wir  den Druck hin zu einem integralen Bewusstsein anschauen und danach  den Zug, den die Werte der integralen Weltsicht ausüben. 

 

Die Lebensbedingungen für das integrale Bewusstsein 

 

Gemäß des dialektischen Stromes von Konflikt und Lösung, der  offensichtlich allen Formen evolutionärer Entwicklung zugrunde liegt,  müssen wir, um die Richtung unserer künftigen Entwicklung zu  erkennen, auf die Konflikte schauen, die momentan unsere Kultur  bestimmen. In der entwickelten Welt finden wir einen zunehmenden  Zusammenstoß von Weltsichten, in der die verschiedenen Stufen um die  Kontrolle über die Gesetze und Gebräuche der jeweiligen Gesellschaften  kämpfen. Dieser kulturelle Kampf findet nicht nur zwischen Liberalen  und Konservativen statt; in der entwickelten Welt sehen wir uns in  Wirklichkeit einem Konflikt gegenüber, der in drei Richtungen geht und  sich zwischen den Werten der traditionellen Stufe, der Moderne und der  Postmoderne abspielt. Genauer formuliert können wir vielleicht sagen,  dass wir es mit einem Tauziehen zwischen der traditionellen Stufe und  der Postmoderne um die Seele der modernen Mehrheit zu tun haben.  Aber wie immer wir auch diesen kulturellen Kampf beschreiben mögen,  wir können sehen, dass viel auf dem Spiel steht. Weil eine Weiterentwicklung dringend notwendig ist und weil dieser kulturelle Kampf eine  Stagnation der Entwicklung nach sich zieht, müssen wir den Frieden  eines größeren Einvernehmens finden, um einen sinnvollen Fortschritt zu erreichen.

 

Mit der integralen Weltsicht können wir erkennen, dass die  Werte jeder Stufe und ihre Weitsicht sowohl Teil der Lösung als auch  des Problems sind -jede Stufe hat ihre eigene Würde und ihre eigenen  Katastrophen: Das traditionelle Bewusstsein erkennt die Notwendigkeit,  gegen gesetzlose Gewalt und das Böse in der Welt vorzugehen, aber es  hat auch Unterdrückung zur Folge. Das moderne Bewusstsein sieht  Möglichkeiten für Entwicklung und Entdeckung, schafft aber auch  große Ungerechtigkeit. Und das postmoderne Bewusstsein erkennt die  Notwendigkeit, jeden zu würdigen und einzubeziehen, es bringt aber  auch Blindheit gegenüber Unterschieden in der Entwicklung mit sich.  Weil jede dieser Weltsichten in der heutigen entwickelten Welt lebendig  und funktionsfähig ist, schaffen sie nicht nur weiter ihre je eigene Form  des Fortschritts, jede von ihnen handelt auch weiterhin aus der je  eigenen Pathologie. Und hier findet der kulturelle Kampf statt. 

 

Zudem wird diese soziale Spannung noch durch die Tendenz jeder  dieser Stufen verstärkt, die anderen Weltsichten vor allem in ihren  pathologischen Elementen zu sehen und dabei zu vergessen, welchen  Beitrag jede Stufe fortwährend zum Fortschritt und der Stabilität der  Welt beiträgt. Es gibt eine allgemeine Unkenntnis darüber, in welcher  Weise die anderen Weltsichten tatsächlich vollkommen angemessen für  bestimmte Lebensbedingungen sind. So sehen zum Beispiel die  Anhänger der Moderne die postmoderne Weltsicht als eine Art politisch  korrekter Mode. Postmoderne Empfindsamkeit wird oft als  „Geschwätz” abgetan. Und genauso sehen Traditionalisten oft jene, die  nicht ihrer Weltsicht folgen, als fehlgeleitete Sünder oder Schlimmeres.  Und die Postmodernen tendieren dazu, die Modernen und Traditionalisten als die eigentliche Ursache aller Probleme der Welt zu brandmarken. Die Postmoderne kann oft sehr antimodern eingestellt sein,  trotz der Tatsache, dass die Moderne den nächsten wichtigen Schritt für  die Mehrheit der Weltbevölkerung darstellt. 

 

Wenn wir den kulturellen Kampf aus der lnnenperspektive einer dieser Weltsichten betrachten, können wir ihre eigene Frustration verstehen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie fehlgeleitet die  anderen erscheinen, wenn wir selbst eine Weltsicht angenommen haben  und alle anderen Weltsichten ausschließen. Aber aus der integralen Perspektive können wir auch erkennen, dass wir mit der Fortsetzung des  kulturellen Kampfes nur die regressiven Teile dieser Weltsichten stärken. Je mehr wir die Wertearmut der jeweils anderen Weltsichten verdammen, treiben wir die Menschen in ihre Ecken und nähren ihre  Ängste, aus denen die jeder Stufe eigene Form von Orthodoxie entsteht. Und wenn diese orthodoxen Teile jeder Weltsicht mehr und mehr Macht  erhalten, wird positiver Fortschritt immer schwieriger. 

 

Das integrale Bewusstsein erkennt in diesem scheinbar unlösbaren  kulturellen Kampf eine sehr problematische Lebensbedingung, die dabei  hilft, die zukunftsweisende Vision des Integralen zu formen. Anders als  die vorhergehenden Stufen, von denen jede die Probleme der darunterliegenden Stufe als kraftvolle Lebensbedingungen für ihren eigenen  Aufstieg sieht, können die günstigen Lebensbedingungen für das integrale Bewusstsein in dem Komplex von Problemen erkannt werden, der  von allen vorhergehenden Stufen gleichzeitig geschaffen wird. Das integrale Bewusstsein findet seine auf Werten basierenden Lösungen durch  das Verständnis darüber, wie die unterschiedlichen Werte jeder historisch bedeutsamen Weltsicht in Harmonie gebracht und integriert  werden können. Weil das integrale Bewusstsein besser die berechtigten  Bedenken jeder Weltsicht hören und verstehen kann, ist es in der Lage,  dabei zu helfen, die Brüche, die durch den kulturellen Kampf entstehen,  zu heilen, indem sie in angemessener Weise jedes Wertesystem würdigt  und den essenziellen Kern dieser Werte auf einer Ebene zum Ausdruck  bringt, die mehr mit einschließt. Nur wenn wir zeigen können, dass wir  die bleibenden Ideale und berechtigten Ansichten jeder vorhergehenden  Weltsicht wirklich würdigen, können wir die Extremisten auf jeder  Ebene entmachten und eine Art von Einvernehmen auf einer höheren  Ebene erreichen, das dazu beitragen wird, den gegenwärtigen Konflikt  zu entschärfen. Deshalb wird das integrale Bewusstsein gebraucht- und  tritt ins Dasein - als die einzig realistische Lösung für die innere Unvereinbarkeit dieser vorher entstandenen evolutionären Bewusstseins-  stufen. 

 

Neben den problematischen Lebensbedingungen, die durch den  zunehmenden Konflikt zwischen den einzelnen Stufen entstehen, findet  das integrale Bewusstsein seine günstigen Lebensbedingungen auch in  den wachsenden globalen Problemen, die jeden von uns betreffen:  Umweltverschmutzung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, Terro-  rismus, unkontrollierter globaler Kapitalismus, Hunger, Armut, Krankheiten und Krieg. Diese globalen Probleme wurden zwar schon vom  postmodernen Bewusstsein genau beschrieben, denn die weltzentrische  Moral der Postmoderne sieht natürlicherweise die dringende Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen und für die Bedürftigen zu sorgen. Und  es liegt auf der Hand, dass die Probleme, die von der Postmoderne angesprochen werden, real und sehr bedrohlich sind. Aber die Unfähigkeit  der Postmoderne, effektive und realistische Lösungen für die Probleme  zu finden, die sie sieht, macht die integrale Vision notwendig. Wie wir schon gesagt haben, besteht die Lösung für die Postmoderne meist  darin, nach einer „Transformation des globalen Bewusstseins” zu rufen,  was oft mit der Ermahnung einhergeht, dass „wir alle zusammenkommen und zu der Tatsache aufwachen müssen, dass wir in Wirklichkeit eine Menschheit sind". Und wenn die Welt so zusammenkommen  könnte, wäre das sicher die Lösung für viele Probleme. Diese Rufe nach  einem großen Erwachen klingen jedoch hohl, weil sie an die Menschheit als Ganzes gerichtet sind, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass die  Mehrheit der Menschheit noch nicht dazu in der Lage ist, etwas auf der  Ebene der Sinngebung zu verstehen, die die Postmodernen voraussetzen. Weil die meisten Postmodernen im Allgemeinen nicht verstehen,  wie Bewusstsein und Kultur sich tatsächlich in einer Abfolge von  bestimmten Stufen entwickeln, wissen sie nicht wirklich, wie sie die Veränderung des Geistes bewirken können, nach der sie suchen.

 

Ken Wilber  hat das gut auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: 

 

„Einfach darauf zu bestehen, dass wir alle eine weltzentrische Ökologie annehmen sollten oder globales Mitgefühl  entwickeln sollten, ist ein gut gemeintes, aber in praktischer  Hinsicht nicht besonders nützliches Projekt, denn weltzentrische Wellen gehen aus Entwicklung hervor, nicht aus  Ermahnungen. Wie schon angemerkt, fordern die Ansätze  eines „Neuen Paradigmas” ein Ziel, ohne den Weg zu  diesem Ziel zu erklären - sie sind Cheerleader für eine  Sache, für die es keine Mittel der Verwirklichung gibt. Das  erklärt vielleicht die tiefe Frustration unter den Wortführern eines Neuen Paradigmas, die wissen, dass sie ein besseres Ideal haben, aber darüber enttäuscht sind, wie wenig  die Welt auf ihr Rufen antwortet.“ 

 

Wenn wir aber erkennen, dass das Bewusstsein über die Entwicklungsspirale verteilt ist, können wir sehen, dass der nächste Schritt für  die Mehrheit der Weltbevölkerung im Übergang zum traditionellen oder  modernen Bewusstsein liegt. Das zunehmende Verständnis der Evolution von Bewusstsein und Kultur zeigt, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung noch nicht einmal die moderne Stufe erreicht hat und deshalb  auch die Werte des postmodernen Bewusstseins noch nicht annehmen  kann. Deshalb müssen wir Lösungsansätze finden, die nicht voraussetzen, dass die ganze Welt durch eine wunderbare Transformation  plötzlich postmodern wird.

 

Wir können sehen, dass die vielen schwerwiegenden weltweiten Probleme sich immer mehr verschärfen. Dabei ist die Frage, ob diese Probleme einen krisenhaften Punkt erreichen müssen, bevor sie ausreichend  Druck ausüben, um die Art von kultureller Evolution hervorzurufen,  welche die Lösung dieser Probleme möglich macht. Vielleicht wird  wirklich eine globale Krise notwendig sein, um die Entstehung der integralen Weltsicht als wichtige kulturelle Struktur auszulösen. Aber was  auch immer in der Zukunft geschehen wird, hoffentlich rufen die globalen Probleme genug Besorgnis hervor, um in der Gegenwart das Entstehen der integralen Weltsicht in einer kritischen Masse von Menschen  zu stimulieren. Hoffentlich wird unsere Kultur sich schnell genug entwickeln, um die Art von Krise zu vermeiden, die tatsächlich zur Regression  der Kultur führen könnte. Aber wir können mehr tun, als nur zu hoffen.  Durch die Annahme der integralen Werte können wir die realistischen  Lösungen der integralen Weltsicht (die wir weiter unten genauer  anschauen werden) sehen, darin übereinstimmen und an ihrer Anwendung mitwirken.  Wie wir im Verlauf der Geschichte sehen, bleiben Probleme oft  unsichtbar, bis sich Lösungen zeigen - bis ein besserer Weg gezeigt  wird, verharren wir oft in Resignation und sehen die gegenwärtigen  Bedingungen, als wären das einfach der unveränderliche Stand der  Dinge. Einige denken, dass sich die menschliche Natur niemals verändern wird, dass es immer Kriege geben wird, arm und reich und die Art  der ausbeuterischen Selbstsucht, die eine bessere Welt unmöglich zu  machen scheint. Aber wenn wir sehen, dass die Werte und die Weltsichten, die aus ihnen hervorgehen, sich wirklich entwickeln - dass im  Verlauf des Wachstums der Spirale sich die „menschliche Natur” weiter entwickelt - dann können wir ein neues System von Lebensbedingungen sehen, welche die neuen Möglichkeiten für Entwicklung  beinhalten, die heute vor uns liegen.  Zusammenfassend können wir sagen, dass die gegenwärtigen  Lebensbedingungen eines stagnierenden sozialen Fortschritts, bedingt  durch den immer schärfer geführten kulturellen Kampf, die drohenden  globalen Katastrophen und das Versagen der Postmoderne, realistische  Lösungen für Probleme zu finden, die sie identifiziert, den Druck und  die Spannung erzeugen, die zu einer evolutionären Entwicklung hin zur  integralen Bewusstseinsstufe führen.   

 

Die Werte des integralen Bewusstseins 

 

Die integralen Werte entstehen aus einem erweiterten Verständnis  von Werten. Mit dem integralen Bewusstsein entwickelt sich eine neue  Wertschätzung der Art und Weise, wie Werte die Substanz jeder Weltsicht darstellen und wie sie als eine energetische Quelle für den systemischen „Metabolismus” dieser Strukturen des inneren Universums  fungieren. Das integrale Bewusstsein erkennt also die Bedeutung der  Werte, weil es sehen kann, dass die Werte selbst sich im Bereich von  Bewusstsein und Kultur entwickeln. 

 

Von allen Werten der integralen Weltsicht ist der Wert der Evolution am wichtigsten. Und mit dieser Betonung des Wertes der Evolution  rückt auch die Idee eines „Grundprinzips” [prime directive] in den Mittelpunkt. Das allem übergeordnete Prinzip ist die Aufrechterhaltung der  Gesundheit und Stabilität des gesamten Stroms der kulturellen Evolution, der Entwicklungsspirale als Ganzes. Weil jedes Neugeborene sein  Leben auf der Ebene des archaischen Bewusstseins beginnt, besteht ein  dauerhafter Fluss der Evolution durch alle Ebenen hindurch. Das übergeordnete Prinzip besagt also, dass die bleibenden Verdienste jeder  Stufe des Systems gesund und funktionsfähig in der Gesellschaft existieren müssen, damit dauerhafte kulturelle Evolution möglich ist. Die  Spirale als Ganzes im Blick zu haben, bedeutet, die evolutionären Möglichkeiten jedes Menschen zu unterstützen, egal an welchem Platz sich  dieser Mensch im Verlauf der Evolution befindet. 

 

Die Werte des übergeordneten Prinzips beinhalten aber nicht nur die  Werte des Fortschritts und der Entwicklung durch die Stufen, sondern  auch den inneren Wert jeder Stufe in sich selbst. Eines meiner Lieblingszitate von Clare Graves ist sein bekannter Ausruf: „Verdammt noch mal, jeder Mensch hat das Recht, der zu sein, der er ist." Und das bezieht sich  natürlich nicht nur auf Menschen, die in ungeschützten Stammesgesell-  schaften leben und die wir alle schützen wollen, sondern auch auf Menschen, die in fundamentalistischen Kulturen leben und die für unser postmodernes Empfinden nicht so anziehend wirken. Also ist das integrale Bewusstsein neben der Wertschätzung für den gesamten Strom der  Evolution von Bewusstsein und Kultur, auch dazu in der Lage, die  gesunden Werte jeder Stufe auf neue Weise zu würdigen. 

 

Das integrale Bewusstsein erlangt seinen evolutionären Fortschritt  teilweise deshalb, weil es alle Werte der Spirale in sich aufnehmen und  damit arbeiten kann. Das heißt nicht, dass das integrale Denken alles als  gleichwertig ansieht (eine Pathologie der Postmoderne), sondern vielmehr, dass es erkennt, wie die Werte jeder historisch bedeutsamen Weltsicht miteinbezogen werden müssen, wenn wir feststellen möchten, was  gut und wertvoll ist. 

 

So können wir zum Beispiel ein bleibendes Verdienst der Stammeskultur darin sehen, dass es die Wichtigkeit der Zugehörigkeit zur  Familie betont - und dieser Sinn für eine ursprüngliche Zugehörigkeit  kann auf den höheren Stufen zu einer Zugehörigkeit werden, die nicht  nur die Blutsbande miteinschließt, sondern zu einer Zugehörigkeit zur  gesamten Menschheitsfamilie wird. In gleicher Weise kann der wilde  Impuls zu individueller Autonomie in höheren Stufen zum Schutz der  persönlichen Freiheit und individueller Rechte werden, die auch in komplexen, beziehungsorientierten Gesellschaften wichtig sind. 

 

Menschen, deren innerer Schwerpunkt das integrale Bewusstsein ist,  sind dazu in der Lage, effektiv die angemessenen Reaktionen auf alle  Lebensbedingungen zu finden, die sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben. Wenn es zum Beispiel um die Gestaltung einer Organisation geht, will das postmoderne Bewusstsein natürlicherweise eine  nicht-hierarchische Organisation bilden, die auf Konsens beruht. Und in  manchen Situationen ist das vollkommen richtig. Aber für andere  Lebensbedingungen kann solch eine Organisationsform sehr hinderlich  sein. Das integrale Bewusstsein kann die Lebensbedingungen besser verstehen und dadurch die Organisationsform schaffen, die für die jeweiligen Mitglieder und die jeweilige Aufgabe angemessen ist. Wenn die  Situation eine militärische Art der Organisation verlangt, die auf Befehl  und Kontrolle basiert, kann das integrale Bewusstsein solch eine Organisation schaffen. Oder wenn die Aufgabe einer Gruppe besser durch eine  wirtschaftliche Organisation erfüllt wird, die auf materiellen Anreizen  beruht, kann das integrale Bewusstsein auch diese gestalten.  

 

Ein ähnliches Beispiel dafür, wie die integrale Philosophie in einer  Organisation angewendet werden kann, kann ich aus der Managementerfahrung meiner eigenen Firma anführen. Jedes Mal, wenn ich  einen neuen Mitarbeiter einstelle, gehe ich, nachdem ich die Leitlinien  der Firma bespreche, durch die „grundlegenden Prinzipien” unserer  Organisation. Das erste Prinzip ist das Prinzip der Ehre: Kein Lügen,  Betrügen oder Stehlen - dieser einfache Schwarz-Weiß-Ausdruck des  Wertes der Ehrlichkeit würdigt die grundlegenden Werte des traditionellen Bewusstseins. Als Nächstes kommt das Prinzip, nach ständiger  Verbesserung der eigenen Fähigkeiten zu streben - damit legen wir Ziele  für das Arbeiten fest und bringen unsere Wertschätzung für ständiges  Wachstum zum Ausdruck, die aus der modernen Weitsicht kommen.  Dann sprechen wir über das Prinzip gegenseitigen Respekts und interpersonaler Fairness, das besagt, dass trotz der auf Managementverantwortung beruhenden Hierarchie jeder Mitarbeiter das Recht hat,  respektiert, informiert und als wertvoller Mensch behandelt zu werden,  dessen innerer Wert unberührt bleibt von seiner Rolle im Unternehmen. 

 

Mit diesen Prinzipien geht die Verantwortung einher, die anderen  Mitarbeiter mit dem gleichen Respekt zu behandeln, und das trifft auch  auf die Lieferanten und Kunden zu. Dieses Prinzip gegenseitigen  Respekts kann der Empfindsamkeit des postmodernen Bewusstseins  gerecht werden. Diese „Werteprinzipien" ergänzen das Leitbild des  Unternehmens, indem sie die Organisationskultur unterstützen, die wir  erreichen möchten. 

 

Die besten Beispiele, wie das integrale Bewusstsein die Werte der  ganzen Spirale nutzen kann, finden sich jedoch im Bereich der Politik.  Wie wir im nächsten Kapitel über „Die integrale Politik“ noch genauer  sehen werden, transzendiert das integrale Bewusstsein die Politik von  links und rechts, indem es erkennt, dass die Werte und Ziele des traditionellen, modernen und postmodernen Bewusstseins angemessene Antworten auf unterschiedliche Lebensbedingungen sind. Manchmal sind  die Lösungsansätze der Traditionalisten richtig, manchmal ist der  Ansatz der Modernisten besser und manchmal sollte sich die Empfindsamkeit der postmodernen Weltsicht durchsetzen. Um es noch einmal  zu betonen, das integrale Bewusstsein wertet diese Ansätze nicht gleich -  es kann sehen, dass das postmoderne Bewusstsein gegenüber den  anderen weiterentwickelt ist-, aber das integrale Bewusstsein kann auch  sehen, in welchen Bereichen die Postmoderne nicht weit genug entwickelt ist, um immer für das Wohl der ganzen Spirale zu arbeiten. Indem  es also das Beste aller Weltsichten in dem Maße einbezieht, wie es die  jeweiligen Lebensbedingungen erfordern, transzendiert die integrale  Weltsicht alle vorhergehenden Weltsichten in ihrer Kraft, kulturelle Evolution hervorzubringen. 

 

Als wir im 3. Kapitel die Bewusstseinsstufen untersucht haben,  konnten wir sehen, dass die neu entstehenden Werte jeder historisch  bedeutsamen neuen Weltsicht ihre Anhänger mit einer größeren Wahrnehmungsfähigkeit ausstatten, die es ihnen erlaubt, neue Aspekte der  Wirklichkeit zu sehen. Das traditionelle Bewusstsein führt zu einer grö-  ßeren Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Das  moderne Bewusstsein gibt neue Einsichten in die materielle Natur des  äußeren Universums und den Menschenrechten. Das postmoderne  Bewusstsein ermöglicht es, die Exzesse der Moderne zu sehen und die  vielen Alternativen zur modernen Sichtweise. Und durch die neu entstehenden Werte des integralen Bewusstseins erhalten wir frische Einblicke  in die Art und Weise, wie sich Bewusstsein und Kultur entwickeln. Und  das ermöglicht es uns zu sehen, wie wir Mitwirkende der Evolution  werden können, indem wir direkter an ihrer Entfaltung mitarbeiten. 

 

Aber das integrale Bewusstsein gibt uns nicht nur eine neue Sicht auf die Dinge, sondern auch einen neuen Weg, wie wir zu kreativen  Lösungsansätzen kommen können - eine neue Erkenntnisfähigkeit. Diese  neue Fähigkeit können wir mit der früher entstandenen Vernunft und  Rationalität des modernen Bewusstseins vergleichen - eine Fähigkeit, die wir in den Stufen davor kaum sehen können. Obwohl es auch möglich ist, dass frühere Bewusstseinsstufen Formen von Verstand und  Logik benutzen, kann das prämoderne Bewusstsein in der Regel nicht erkennen, dass die Mythen, die ihr Denken beherrschen, in sich unlogisch oder sogar völlig irrational sind. Das prämoderne Bewusstsein  kann deshalb den Verstand nicht in gleicher Weise wie das moderne  Bewusstsein dazu benutzen, die Welt zu entmythologisieren und die Natur mit einer neuen Klarheit zu betrachten, die nur eine zutiefst rationale Weltsicht ermöglicht. Genauso wie das moderne Bewusstsein eine neue kraftvolle Verstandesfähigkeit hervorbrachte, bringt auch die Entstehung des integralen Bewusstseins eine neue Fähigkeit hervor, die aus der größeren Möglichkeit entspringt, die Phänomene des inneren Universums zu verstehen. 

 

Wilber bezeichnet diese neue Fähigkeit als „Schau-Logik“ [vision-logic] und beschreibt sie wie folgt: 

 

„Wo der formale Geist [das moderne Bewusstsein] höhere  und kreativere Beziehungen begründet, bildet die Schau-Logik aus diesen Beziehungen Netzwerke. Dabei geht es darum, jede Feststellung neben vielen anderen zu sehen,  um zu erkennen oder „zu schauen", wie die Richtigkeit  oder Falschheit jeder Feststellung die Richtigkeit oder Falschheit aller anderen beeinflusst. Solch eine Panorama-Sicht oder Schau-Logik kann große Netzwerke oder Ideen  verstehen, und auch, wie sie einander beeinflussen und was  ihre Beziehungen zueinander sind. Somit ist es der Beginn  einer echten Fähigkeit zur Synthese auf einer höheren  Ebene, die damit einhergeht Verbindungen herzustellen, Wahrheiten aufeinander zu beziehen, Ideen zu koordinieren und Konzepte zu integrieren.“ 

 

Laut Wilber ermöglicht die Schau-Logik eine Integration von intellektueller Fähigkeit und Intuition in einer Art und Weise, die Körper und Geist vereint und eine neue Fähigkeit entwickelt, Beziehungen zu erkennen und Probleme mit einer gesteigerten Kreativität anzugehen. 

 

In meiner Erfahrung kann diese neue Erkenntnisfähigkeit des integralen Bewusstseins am besten als „dialektische Evaluation”  beschrieben werden, denn anders als der Verstand oder die Logik ist  diese neue Fähigkeit nicht in der Kognition, sondern in der Entscheidungsfreiheit zentriert. Das heißt, dass die neuen Erkenntnisse der „Schau-  Logik” durch die Benutzung unseres Willens entstehen - es ist ein Prozess der Evaluation durch Kopf und Herz - im Gegensatz zu Verstand  und Logik, die analytischer und streng kognitiv sind. Der integral informierte dialektische Prozess der Evaluation erkennt, wie miteinander in  Konflikt stehende Werte und Weltsichten in einem größeren evolutionären System zusammenwirken und sich gegenseitig durch Widerspruch in einer Art und Weise unterstützen, die man mit der Verstrebung zum Zusammenhalt einer architektonischen Struktur vergleichen kann. Durch den dialektischen Prozess der Evaluation können  wir sehen, wie die Elemente jedes evolutionären Systems in der einander  unterstützenden Rolle von These-Antithese-Synthese zusammenwirken.  Aber nur wenn wir jedes Element des Systems angemessen würdigen,  können wir ihre wichtige Funktion im ganzen System erkennen. Das  bedeutet mehr, als einfach nur die verschiedenen Alternativen gegeneinander abzuwägen und den unterschiedlichen Bestandteilen verschiedene Werte zuzuordnen; es ist ein Ansatz des Verstehens und der  Würdigung, die eine intuitive Sympathie voraussetzt, die nur entstehen  kann, wenn man in die alternativen Perspektiven, die gegensätzliche  Werte hervorbringen, eintritt. Wenn wir ohne diese Fähigkeit den evolutionären Prozess anschauen, sehen wir nur Konflikte; aber wenn wir die  Entfaltung größerer innerer Strukturen in der Zeit erkennen, können wir  besser würdigen, wie sie in einem größeren Kontext zusammenpassen,  und das erlaubt es uns mit diesen Strukturen kreativer umzugehen. In  Anbetracht dessen definiert Robert Kegan das integrale Bewusstsein als  „die Fähigkeit, Konflikte als ein Signal für unsere Überidentifizierung  mit einem einzigen System zu erkennen". 

 

Wenn Sie darüber nachdenken, was ein dialektischer Prozess der Evaluation für Sie bedeuten würde, behalten Sie im Blick, dass es sich  dabei um einen subtilen Prozess handelt und dass dieser von der erweiterten vertikalen Perspektive abhängt, die das integrale Bewusstsein  ermöglicht. Diese größere Erkenntnisfähigkeit ist sehr real und sehr  kraftvoll, aber es braucht Übung, um ein auf Erfahrung beruhendes Verständnis davon zu entwickeln. Beispiele für die Anwendung der Schau-Logik oder des dialektischen Prozesses der Evaluation finden Sie in den Kapiteln über integrale Politik oder integrale Spiritualität. Wir werden diese Fähigkeit auch im 7. Kapitel über „Die Begründer der integralen  Philosophie” untersuchen, wo wir sehen werden, dass Hegel wahrscheinlich der erste Philosoph war, der diese neu entstehende Fähigkeit  klar zum Ausdruck brachte. Und im 9. Kapitel über „Die Strukturen des  menschlichen Geistes” werden wir weiter die wichtige Rolle des freien  Willens beim Wachstum und der Entwicklung von Bewusstsein auf jeder  Stufe untersuchen.  Wir werden im Verlauf der weiteren Diskussion immer wieder die  neu entstehenden Werte und Fähigkeiten des integralen Bewusstseins  betrachten. Aber um die Möglichkeit für einen Vergleich zu geben, sind  im Diagramm 4-1 die Charakteristiken der integralen Weltsicht, wie wir  sie bisher verstehen, zusammengefasst. 

 

Das integrale Bewusstsein im historischen Kontext 

 

Wenn wir uns anschauen, wo sich das integrale Bewusstsein auf der  Entwicklungsspirale befindet (wie in Bild 4-1 dargestellt), zeigen sich die  vielen Gemeinsamkeiten zwischen der modernen und der integralen  Weltsicht. Aber die integralen Werte unterscheiden sich von den  modernen Werten dadurch, dass das integrale Bewusstsein die  gesunden Werte des postmodernen Bewusstseins (und aller anderen  Stufen) in seinem evolutionären Transzendenz mit einschließt und integriert. Und dieses transzendente Einbeziehen unterscheidet die integrale  Weltsicht sehr stark von der Moderne. Aber trotz dieser großen Unter-  schiede können wir viele Parallelen zwischen der Entstehung des frühen  modernen Bewusstseins während der Aufklärung und der Entstehung  des integralen Bewusstseins in unserer Zeit sehen. Denken Sie einmal  über die folgenden Gemeinsamkeiten nach: Das moderne Bewusstsein  besitzt eine Wertschätzung für den Fortschritt, das integrale Bewusstsein  würdigt die Evolution; das moderne Bewusstsein sieht ein gelungenes  Leben in einem Zuwachs an Status und materiellem Besitz, das integrale  Bewusstsein sieht ein gelungenes Leben in einem Zuwachs an Bewusst-  sein - die Art von Wachstum, die aus der ständigen inneren Entwicklung entsteht. Die Modernisten sind fasziniert von äußeren  Technologien wie Maschinen und Elektronik; die lntegralisten fühlen  sich von inneren Technologien, wie zum Beispiel psychospirituelle   Übungen, angezogen. Als die Moderne zum ersten Mal sichtbar wurde,  brachte sie einen neuen Ansatz mit sich - Verstandesfähigkeit und die  wissenschaftliche Methode. Und heute bringt auch das integrale  Bewusstsein einen neuen Ansatz - den dialektischen Prozess der Evaluation und den mitfühlenden Umgang mit der ganzen Spirale als eine …

Fortsetzung folgt …                                                                                                                      

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